Wann kommt die Rente mit 69?

Eine von der Bertelsmannstiftung in Auftrag gegebene Studie wird für eine solche Debatte instrumentalisiert

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Wenn von Reformen die Rede ist, kann man schon seit Jahrzehnten voraussagen, dass damit neue Belastungen für viele Menschen angekündigt werden. Das zeigt sich am Medienceho einer von der Bertelsmannstiftung in Auftrag gegebenen Studie zur Zukunft des Rentensystems in Deutschland, in der für einschneidende Reformen geworben wurde. Erstellt wurde die Studie von dem Bochumer Sozialwissenschaftler Martin Werding. Dort werden durchaus Forderungen erhoben, wie sie auch von Vertretern eines solidarischen Rentensystems schon länger vertreten wurde. So sollen auch Beamte und Selbstständige in das Rentensystem einzahlen, um die Rentenfinanzierung auf eine breitere Grundlage zu stellen.

Die FAZ, hingegen stellte in ihrer Überschrift eine andere Forderung ins Zentrum: "Die Rente mit 69 wird bald nötig". Tatsächlich klingen die Töne in der Studie alarmistisch: "Wenn die geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1970 demnächst aus dem Berufsleben ausscheiden, wird das Niveau der Renten in Deutschland weiter sinken und der Beitragssatz steigen müssen. Um eine langfristige Unterfinanzierung der gesetzlichen Rentenkassen zu verhindern, reichen einzelne Veränderungen nicht aus, sondern nur ein Paket an Maßnahmen."

Welchen Stellenwert hat die Demografie in der Rentendebatte?

Tatsächlich wird in der Studie sehr stark mit dem demographischen Faktor argumentiert:

"Während heute der Anteil der über 65-Jährigen bei 30 Prozent liegt, sieht die Prognose für2030 einen Anteil von 49 Prozent und für 2060 von 63 Prozent. Damit entsteht spätestens ab 2030 ein neuer Anpassungsbedarf in der gesetzlichen Rentenversicherung. Zwar werden sich bis 2030 die Veränderungen von Beitragssatz und Rentenniveau in Grenzen halten. So wird der Beitragssatz auf 21,3 Prozent ansteigen, während das Rentenniveau auf 45,2 Prozent absinkt. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Geburtenrate gleichbleibt, die Lebenserwartung nur zwei Jahre pro Dekade steigt und die Nettozuwanderung bei durchschnittlich 150.000 pro Jahr liegt. Die weitere Fortschreibung dieser Größen bis zum Jahr 2060 würde allerdings dazu führen, dass der Beitragssatz auf 27,2 Prozent ansteigen muss, wenn wenigstens noch ein Rentenniveau von 41,2 Prozent erreicht werden soll."

Sozialwissenschaftler wie Christoph Butterwegge wenden sich scharf gegen demografische Argumente für weitere Einschnitte in das Sozialsystem. Der "demografische Niedergang" habe die Funktion, den "neoliberalen 'Um-' bzw. Abbau des Sozialstaats und drastische Leistungskürzungen zu legitimieren", konstatiert Butterwegge. Er kam schon 2002 zu dem Fazit:

"In den medialen Diskursen zur sozialen Sicherung erörtert man jedoch nicht, wie aus einer Verschiebung der Altersstruktur ggf. resultierende Schwierigkeiten solidarisch bewältigt werden können, z.B. durch die Verbreiterung der Basis des Rentensystems, die konsequente Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Erhöhung der Frauenerwerbsquote und/oder die Erleichterung der Zuwanderung. Stattdessen fungiert die 'immer ungünstigere Altersstruktur' als Grundlage der Rechtfertigung für Sozial- und Rentenkürzungen."

Der von der Bertelsmann-Stiftung neu entfachte Diskurs bestätigt Butterwegges Warnungen. Die Rente mit 69 wird von der Bundesregierung keineswegs ausgeschlossen, nur als gegenwärtig nicht vordringlich auf spätere Zeiten verschoben. Zunächst müsse die Rente mit 67 durchgesetzt werden, erklärt ein Sprecher des Bundesarbeitsministeriums. Vehement wandte er sich allerdings gegen die Einbeziehung von Beamten und Selbstständigen in die Rentenversicherung. Damit würde die Klientel der Bundesregierung tangiert, der man im Wahljahr eine Beteiligung an einer solidarischen Rente nicht zumuten will.

Stellt man aber die Rentenfinanzierung nicht auf eine breitere Grundlage, wird die Erhöhung des Rentenalters als Sachzwang verkauft. Schon vor einigen Wochen lieferte die konservative Welt die passende Umfrage, nach der schon mehr als die Hälfte der Befragten sich auf eine schrumpfende Rente und der Erhöhung des Rentenalters einstellen. Dabei könnte man ja auch mal nach Frankreich blicken, wo es in den letzten Jahren einen der längsten Streiks gegen eine Erhöhung des Rentenalters gab. Seit kurzen gibt es einen informativen Film mit deutschen Untertiteln über diesen Ausstand, der fast das gesamte Land lahmlegte.