Späte Einsichten eines Muckers

Noel Gallagher, einstiger Mastermind der legendären Rüpelband Oasis, denkt laut über die Jahre mit der eisernen Lady nach

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Immer wieder mal kommen Prominente, Künstler, Politiker oder Kultursachaffende, mit der politischen Korrektheit in Konflikt, also mit jener ungeschriebenen Moralordnung der postmodernen Mediengesellschaft, die jede Äußerung, jeden Satz oder gar jedes Wort auf die Goldwaage legt, sie nach möglichen Unanständigkeiten abklopft und diese dann, gegebenenfalls, mächtig aufbauscht.

Vor einigen Jahren tappte etwa der Sänger Morrissey ( Popjournalistische Ressentiments) in eine ihrer Fallen, als er in einem Telefoninterview bekannt haben soll, dass er wegen der vielfarbigen Nationalitäten, die sich mittlerweile auf den Straßen seines Heimatlandes bewegten, sein ehemaliges britisches Zuhause nicht mehr erkenne ( Morrissey complains that immigration has led to the loss of Britain’s identity).

Der New Musical Express, der in den Achtzigerjahren den Sänger von The Smiths hofiert hatte und lange Jahre als seine Hauspostille galt, kündigte ihm daraufhin die mehrjährige Freundschaft. "Bigmouth strikes again" titelte die Zeitschrift, dabei an vergangene Ausfälle des Sängers bei Konzerten ( Caucasian rut) erinnernd und auf einen seiner größten Popsongs anspielend.

Besser unter Thatcher

Dieser Tage scheint sich auch Noel Gallagher, ehemals Mastermind von Oasis, im herrschenden Moralcode verheddert zu haben. Der Mail on Sunday soll er vor ein paar Tagen erklärt haben, dass es dem Land unter Maggie Thatcher besser gegangen wäre als danach unter Blair und New Labour. Unter ihrer harten und politisch rechten Regentschaft sei gar "große Kunst" entstanden. Design und Musik wären damals "bunt und fortschrittlich" gewesen.

Auch habe es seinerzeit unter den Heranwachsenden noch eine echte "Arbeitsethik" gegeben. "Wer arbeitslos war", erklärte er, "habe alles darangesetzt, sofort einen neuen Job zu finden." Mittlerweile sei das nicht mehr so. Seit New Labour die Regierungsgeschäfte übernommen habe, gebe es nicht nur keine neue und gute Musik mehr, diese Wertordnung sei auch vollkommen gekippt worden. Statt sich um Arbeit zu kümmern, werde überall nur noch "gezwitschert"; und statt Platten zu kaufen, setzten die Jungs und Mädels alles daran, ins Fernsehen zu kommen.

Anzumerken ist, dass diese Aussagen nur Teil eines ausführlichen Gesprächs waren, das der Journalist Simon Lewis mit dem Rocksänger in einem Studio im Norden Londons geführt hat ( 'It was all better under Thatcher'). Tatsächlich geht es darin auch und vor allem um seine langjährige Drogensucht, den starken Einfluss seiner zweiten Frau Sara, das Rowdytum seines jüngeren Bruders Liam, den Hahnenkampf, den er sich einst mit Damon Albarn Mitte der Neunziger wegen der Musikpresse geliefert hat, sowie um eine mögliche Reunion von Oasis zum zwanzigsten Jahrestag des Erscheinens von "Definitely Maybe", dem nach "Sergeant Pepper" erfolgreichsten Studioalbum.

Dass seine Äußerungen zu den Thatcher-Jahren von der Daily Mail so prominent herausgestellt werden und dadurch so weite Kreise ziehen konnten, sagt zunächst weniger über die Haltung und die Ansichten des Komponisten und Musikers aus, als vielmehr darüber, wie und womit im postmodernen Medienzirkus aktuell Aufmerksamkeit erzeugt, Clickraten und Verkaufszahlen angehoben werden und Politik mit Prominenten in Medienhäusern gemacht wird.

Rüpelrocker

Etwas Ehrenrühriges, Anstößiges oder gar Skandalöses kann man in seinen Worten und Sätzen jedenfalls weder finden noch erkennen. Was jemand, und sei er auch noch so prominent, von Maggie Thatcher hält, von den Jahren und der Politik unter ihr, ist nicht wirklich interessant. Das ist lange her und längst Geschichte. Im Kino wird diese Zeit gerade mit Meryl Streep in der Hauptrolle nochmals aufgearbeitet. Würde hierzulande jemand Vergleichbares über die Schröder-Jahre sagen, über die Agenda 2010 etwa, wäre das auch keine Meldung wert.

Trotzdem sind Noel Gallaghers Äußerungen in gewissem Sinn doch bemerkenswert (in manchen Ohren, die die Politik der Eisernen Lady vor allem mit Klassenkampf und der Zerschlagung der Gewerkschaften in Verbindung bringen, mögen sie sogar befremdlich klingen). Zumal sie aus dem Mund eines ehemaligen Rebellen kommen, der selbst einer Proletenfamilie entstammt, dessen Vater ein prügelnder Säufer war, der in einem heruntergekommenen Arbeiterviertel in Manchester aufwuchs und als Jugendlicher andere bestohlen hatte.

Später, als er schon ziemlich berühmt war, führte das Arbeiterkind nicht nur ein sehr luxuriöses Leben mit einem ganzen Fuhrpark edler Karossen vor seinem Anwesen, er ließ sich auch von Tony Blair in Number 10, Downing Street einladen, um Reklame für ihn, New Labour und Cool Britannia zu machen. Zusammen mit seinem Bruder Liam war er lange Jahre der Schrecken aller Flugbegleiter, Hotelbesitzer und Barkeeper dieser Erde. Immer wieder erregten beide durch Drogen- und Alkoholexzesse, Schlägereien, Verwüstungen und gegenseitige Beschimpfungen die Aufmerksamkeit des Boulevards und der Tagespresse.

Verrat seiner Herkunft

Schon damals, als der fast Vierzigjährige Mitte der Nullerjahre in ein kreatives Loch gefallen und dabei war, sein Leben als egomanischer Rock'n'Roller zu bilanzieren, soll er in Interviews bereits den Werteverlust beklagt und dazu sinngemäß geäußert haben: "Ich habe niemals jemanden vertreten außer mir. Als junger Kerl hatte ich keine Arbeit. Was ich hatte: Stolz auf meine Klasse und einen gewaltigen Hass auf Thatcher. Wo ist meine Klasse hin? New Labour hat sie aufgelöst und Thatchers Werk vollendet" ( Blick nach vorn in Zorn).

Von diesem "Stolz" auf Herkunft und Klasse, aber auch vom "Hass auf Thatcher" scheint außer der Verachtung für New Labour nicht mehr viel übrig zu sein. Mit seiner Klasse, Herkunft und Vergangenheit scheint er fertig zu sein und abgeschlossen zu haben. Sie ödet ihn nur noch an. Aber berechtigt dies dazu, die nachfolgende Generation pauschal als "nichtsnutzig", "arbeitsscheu" und "faul" zu bezeichnen, die nur noch an sich denkt, sich expressiv darstellt und wie ein Pawlow'scher Hund nach Medienaufmerksamkeit lechzt? Handelt es sich da wirklich um späte Einsichten eines Muckers und Rüpelrockers? Oder begeht der ansonsten immer recht klassenbewusst auftretende Noel da nicht auch Verrat an seiner eigenen Vergangenheit?

Wie immer man seine Aussagen im Einzelnen auch bewerten mag, Fakt ist, dass er die Arbeiterwerte für verloren glaubt. Seine beide Kinder Donovan und Sonny ( Jobs der Kinder egal) will er jedenfalls nicht dort aufwachsen lassen, wo Schulkinder von Polizisten vor rivalisierenden Gangs geschützt werden müssen und vorm Schulbesuch von Metalldetektoren auf Waffen durchsucht werden. Damit sie später zuhause nicht wie Ali G. kauderwelschen, wird er sie auf Privatschulen schicken, dahin, wo auch russische Oligarchen ihre Kinder erziehen lassen.

Kriminelle Idioten

Große Verwunderung auslösen sollten solche Urteile eines sozialen Aufsteigers und Newbies der upper class nicht. Schon im Herbst letzten Jahres hatte er mit drastischen Worten die Jugendkrawalle in England kommentiert. Als im Oktober in englischen Städte nach dem Tod des schwarzen Gangsters und Drogendealers Mark Duggan durch die Polizei Jugendbanden Tage lang Geschäfte plünderten, Schulen, Geschäfte und Autos in Brand steckten und die Regierung ob dieser blinden Gewalt gar den Ausnahmezustand erklären musste, hatte er diese Jugendlichen als "kriminelle Idioten" bezeichnet, die allesamt hinter Gitter gehörten.

Während die arabische Jugend zur gleichen Zeit für mehr Freiheit, Teilhabe und soziale Rechte Plätze besetzt und Straßen blockiert hatte, habe die britische Jugend nur den Raub von Handys. Markenkleidung und Flachbildschirmen im Sinn gehabt, beklagte er. Sogar der Pretty Green Shop seines jüngeren Bruders Liam sei damals von den Plünderern ausgeraubt worden. Für die ungerichtete Gewalt hatte er seinerzeit vor allem die Ausstrahlung und Verbreitung brutaler Videospiele und Filme im Fernsehen verantwortlich gemacht.

Schlechte Promotion

Die hohen Wellen, die Noels Äußerungen über die eiserne Lady sowie die mangelnde Bildung und Erziehung der Heranwachsenden bei einem Großteil seiner Fans jetzt geschlagen haben, scheinen dem Sänger und Kopf der "High Flying Birds", der gerade seine Tour durch Australien beendet, doch etwas Kopfzerbrechen gemacht zu machen. Noch am selben Tag schwächte er in seinem Blog ( 'I feel outraged, so for the record...') sein vermeintliches Hoch auf die Thatcher-Zeit erheblich ab. Niemals sei er Anhänger von ihr gewesen, ließ er dort mitteilen. Das Gegenteil sei vielmehr wahr.

Die Jahre unter Thatcher seien schlecht "für unsere Seelen" gewesen. "Arbeiterkunst, Mode und Jugendkultur seien trotz dieser Frau und ihrer harten rechten Politik entstanden und nicht wegen ihnen." Darum sei er auch sehr, sehr wütend über die Schlagzeile der Mail on Sunday, vor allem, weil es eine miese Werbung für die neue Platte darstelle. Rotzig-trotzig wie es sich für einen ehemaligen Rockrüpel ziemt, fügt er hinzu: "Den Tag, an dem sie sterben wird, werden wir genauso feiern, wie wir 1989 Party gemacht haben" ( 'Great music was made in spite of Margaret Thatcher').

Musik statt politische Bekenntnisse

Was von all dem zu halten ist, darauf darf sich jeder selbst einen Reim machen. Immerhin zeigt sich der Songwriter am Schluss besagten Interviews ziemlich ehrlich und aufrichtig, zumindest was seine persönlichen Motive, seine Songs und seine Musik angehen.

"Ich will keinen kritischen Applaus. Meine Songs brauchen keinen sozialen Kommentar. Radiohead können den haben. Darum sind sie auch nie drei Abende am Stück in Wembley aufgetreten. Ich will das Geld, das Flugzeug, den Urlaub und die Business Lounge."

Selbstverständlich ist Noel nicht Bono, nicht Bob Geldorf und mithin auch kein Weltbeglücker, sondern vielmehr ein außergewöhnlicher Komponist, Songschreiber und Rockmusiker. Da geht es nicht um politische Statements und hehre Ansichten, sondern um Liebe und Schmerz, um die Bewältigung des Alltags und die Vergänglichkeit des Lebens. "We live a dying dream/ if you know what I mean/If you won't save me/don't waste my time", heißt es dazu beispielsweise in Falling Down.

Darum werden uns derlei Aussagen und Bekenntnisse auch nicht davon abhalten, uns auf die Iden des März zu freuen, dann, wenn Noel mit den "High Flying Birds" auf Deutschlandtour ist und sein erstes und von allen hochgelobtes Soloalbum vorstellen wird, gewürzt und angereichert mit einigen Gassenhauern von Oasis.

Am 11. März gastiert er in der Münchner Tonhalle. Glücklich darf sich schätzen, wer sich frühzeitig um eine Karte bemüht hat. Alle anderen müssen es am Schwarzmarkt versuchen oder über eine der diversen Tauschbörsen. Das Konzert ist nämlich längst ausverkauft.