Schweigeminuten, Kinderbeichten und die erzwungenen Gefühle

Außer Kontrolle

Die NPD verweigert die Schweigeminute für die Opfer der NSU und prompt wird dies zum Eklat. Die Lösung ist insofern strikte Heuchelei.

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3,2,1 – Trauer

Manche Menschen machen schon während der Schulzeit ihre ersten Erfahrungen in Bezug auf Schweigeminuten, Trauergottesdienste und den Gruppenzwang dahinter. Die Opfer von Hiroshima, die Opfer des Nationalsozialismus, die Opfer diverser aktueller Natur- und sonstiger Katastrophen... mancher Lehrer meint, kollektives Trauern um des Trauern Willen sei eine gute Idee, so dass die Kinder oder Jugendlichen dann entweder im Klassenzimmer oder in der Aula zusammen herumstehen und quasi auf Knopfdruck schweigen oder gar beten sollen.

Schon während dieser Zeit zeigt sich, welcher Symbolismus diesen Schweigeminuten anhaftet und auch, welcher Gruppenzwang dahinter steht. Es ist nicht wichtig, ob die "Trauernden" tatsächlich trauern, es reicht, wenn sie als symbolisch wichtige Gruppe die Trauer ausdrücken, die jemand anderes anordnet. Während in Schulzeiten eine Verweigerung beim Direktor endet und ggf. eine Besprechung mit den Eltern zur Folge hat, sind auch später Verweigerungen der kollektiven Emotionsbekundigung Grund für negative Berichterstattung oder Verurteilung der Verweigerer. Hier zeigt sich auch, dass letztendlich die Emotion nicht wirklich wichtig ist, sondern es ausreicht vorzugeben, diese Emotion wäre vorhanden. Einfach gesagt: Kaum jemanden interessiert, ob der "Trauernde" wirklich trauert, es reicht, wenn er quasi als Laienschauspieler den Trauernden gibt, um das Publikum, was aus Oppositionsparteien, Medien, der Bevölkerung oder allem zusammen bestehen kann, zufriedenzustellen.

Wird diese Maskerade zu weit getrieben, schlägt das Pendel in die andere Richtung aus und es wird dem zu stark Heuchelnden die Heuchelei angekreidet, die ansonsten nicht nur erwünscht, sondern gefordert wird.

Schweigeminuten als politischer Schachzug

Schweigeminuten für Opfer von X werden daher auch gerne als Schachzug genutzt, um zu provozieren. Hierbei kann diese Provokation dazu dienen, die eigene Position zu untermauern und den anderen in Zugzwang zu bringen, so z.B. bei der Forderung der NPD, eine Schweigeminute für die Opfer der Bombardierung Dresdens einzulegen. Genauso dient auch die Verweigerung von bestimmten Schweigeminuten als politischer Schachzug, so wie jüngst in Mecklenburg-Vorpommern, wo die NPD die anberaumte Schweigeminute für die Opfer der NSU verweigerte.

Die NPD nutzte dabei eine durchaus nachvollziehbare Argumentation, sie verweigerte nämlich die Schweigeminute mit der Argumentation, dass es hier um Trauer um bestimmte Opfer ginge, man bei Opfern jedoch nicht unterscheiden solle. Nichtdestotrotz kann ein solches Verhalten, also das Verlassen des Landtages, um eine beschlossene Schweigeminute nicht mitdurchzuführen, auch Ordnungsmaßnahmen nach sich ziehen. Einfach gesagt: Wenn ein Landtag beschließt, dass es Zeit ist zu trauern, dann haben sich dem alle anzuschließen. Gefühle per Dekret heißt dies schlichtweg.

Dabei ist letztendlich egal, welche Argumentation genutzt wird, eine Verweigerung der Schweigeminute, wenn nicht auch tatsächlich Trauer durch den Menschen empfunden wird, ein ehrliches Signal. Doch diese Ehrlichkeit wird geringgeschätzt, wenn sie dem jeweiligen moralischen Empfinden entgegensteht. Nicht die Weigerung, Opfer im Allgemeinen zu gedenken, wird dabei bewertet, sondern die Reaktion auf bestimmte Opfer, die jeweils von der Öffentlichkeit und dem Verweigerer in wichtige oder unwichtige, gedenkenswerte oder nicht gedenkenenswerte Opfer eingeteilt werden.

Die Schweigeminuten in Bezug auf die NSU-Opfer zeigen dabei insbesondere auch, wie schnell Opfer, die einer solchen Schweigeminute eben nicht "würdig" sind, zu solchen mutieren, weil dies aus den Gründen, die in der Historie Deutschlands liegen, nur opportun/notwendig/wichtig/symbolträchtig genug erscheint. Die Opfer der "Döner-Morde", die einst nur als Opfer von Drogengeschäften und anderen Straftaten, in denen sie mutmaßlich verwickelt waren, galten, sind nun, da sie als Opfer von einer Nazibande gelten, schweigeminutenwürdig. Das Wort "Döner-Morde" wurde zum Unwort des Jahres gewählt.

"Mit der sachlich unangemessenen, folkloristisch-stereotypen Etikettierung einer rechtsterroristischen Mordserie werden ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und die Opfer selbst in höchstem Maße diskriminiert, indem sie aufgrund ihrer Herkunft auf ein Imbissgericht reduziert werden", beschied die Jury und auch diese Einschätzung wurde erst nach der Entdeckung, dass die NSU hinter den Morden stecken soll, getroffen, zuvor war der Begriff weitgehend populär und wurde auch genutzt; auf die Idee, für die Opfer dieser "Döner-Morde" Schweigeminuten oder Ähnliches stattfinden zu lassen, wäre wohl niemand gekommen.

Gegen Schweigeminuten, Lichterketten und andere Arten der öffentlichen Trauerbekundung wäre solange nichts zu sagen, wie die Nichtteilnahme an diesen Schauspielen nicht auch gleich zu (medialer/öffentlicher) Verurteilung führen würde. So aber geht es letztendlich nicht einmal um die Opfer, sondern darum, selbst als "Trauernder" im guten Licht dazustehen.

Kinderbeichten

Die sogenannten Kinderbeichten sind in diesem Kontext, obgleich sie nur wenig mit Trauer zu tun haben müssen, durchaus ebenfalls in die Liste der erzwungenen Emotionen bzw. der erzwungenen öffentlichen Darstellung einzuordnen. Bei der Beichte handelt es sich um eine sehr private Angelegenheit, die dann stattfindet, wenn der Beichtende dies für richtig hält, im passenden Rahmen usw. Er selbst sucht sich aus, bei wem er was beichtet und wann. Bei der Kinderbeichte aber wird, ähnlich wie bei den Schweigeminuten in den Schulen, dem Kind vorgeschrieben, wann es zu beichten hat – eine höchst private religiöse Angelegenheit wird somit zum Schauspiel, zur öffentlichen Kundgebung, gleichgültig ob es etwas zu beichten gibt oder nicht. Notfalls gilt es, sich etwas aus den Fingern zu saugen, um der Forderung "Beichte, jetzt!" nachzukommen. Der Gruppenzwang, der hier bereits ausgeübt wird, ist jedoch bei Gefühlen fehl am Platze, genauso bei religiösen Handlungen.

Man mag somit das Verhalten der NPD kritisieren, doch letztendlich hat sie sich entschieden, lieber ein ihr genehmes Signal zu setzen und sich zudem auch nicht der Heuchelei schuldig zu machen. Es gibt viele Gründe, die NPD und ihre einzelnen Fraktionen sowie Nationalsozialismus und Neonationalsozialismus zu kritisieren, doch die Verweigerung von institutionalisierter Pseudotrauer gehört nicht dazu.