It's the democracy, stupid

Für die Finanz- und Wirtschaftskrise ist nicht der Kapitalismus, sondern die Politik der demokratischen Staaten verantwortlich.

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Dieser Tage wäre Marion Dönhoff, die große alte Dame des geistigen Liberalismus im Land, hundert Jahre alt geworden. Noch Jahre vor ihrem Tod hat sie in einer Rede, die sie in Dresden anlässlich der Verleihung des Erich-Kästner-Preises an sie gehalten hat ( Zivilisiert den Kapitalismus!), dazu aufgefordert, den Kapitalismus zu zivilisieren. Ihm müssten rigide Grenzen gesetzt werden, meinte sie seinerzeit, denn "Freiheit ohne Selbstbeschränkung, entfesselte Freiheit also, ende auf wirtschaftlichem Gebiet zwangsläufig im Catch-as-catch-can und schließlich in dem Ruf nach einem 'starken Mann', der alles wieder richten soll."

Gier zügeln

An diese Rede hat Helmut Schmidt, ehemaliger Kanzler der alten Bundesrepublik jüngst in einem Beitrag für den Berliner "Tagesspiegel" erinnert. "Unerhört" war dieser Appell laut Schmidt damals, weil er nicht von einer Linken oder gar Marxistin erhoben wurde, sondern von einer Liberalen. Von ihr war am wenigsten erwartet worden, dass sie den Kapitalismus in dieser "ungehörigen" Weise angegriffen hätte.

Auch wenn sie die asiatische Krise noch nicht im Auge gehabt habe und ihr die derzeitige Weltwirtschaftskrise, die vom amerikanischen Finanzkapitalismus ausgelöst wurde, erspart geblieben ist, wäre sie womöglich, so Schmidt, darüber nicht groß erstaunt gewesen, da weder Politiker noch Regierungen oder Parlamente auch nur ansatzweise den Versuch gemacht haben, den "Egoismus" und die "Gier" der Menschen, die ihrer Meinung nach zu diesen Krisenanfälligkeiten des Kapitalismus führen, politisch zu zügeln.

Zwar wäre es den nationalen Regierungen und den Zentralbanken gelungen, mit einer weltweit koordinierten Aktion die Gefahr einer Weltdepression abzuwenden, doch "zur Zähmung des Raubtierkapitalismus" sei bisher nichts Nennenswertes geschehen. Im Gegenteil, einige Finanzmanager kehrten bereits zu ihrem alten Spiel zurück und schütteten, wie Goldman Sachs, Milliarden Dollar an Bonuszahlungen an ihre Manager aus.

The Show goes on

Doch Märkte, darauf hat Fareed Zakaria vor ein paar Monaten hingewiesen ( The Capitalist Manifesto: Greed Is Good), sind "komplexe Systeme", die, wenn die Dinge wieder im Lot sind, einfach weitermachen wie zuvor. Das habe man 1987 gesehen, als der Dow Jones mit 23 Prozent den höchsten Tagesverlust seiner Geschichte einfuhr; das habe man auch zehn Jahre später während und nach der ostasiatischen Währungskrise gesehen und fünf Jahre später, als die New Economy Blase platzte.

Jedes Mal habe man die darauf folgende Rezession als die schlimmste seit der großen Depression der dreißiger Jahre bezeichnet. Aber schon nach kurzer Zeit ging alles wieder seinen gewohnten Gang, ohne dass obendrein ein "großer starker Mann" folgte. Die simple, für manche vielleicht auch traurigste Botschaft und Wahrheit, die man aus all diesen Vorgängen ziehen könne, sei, dass der Kapitalismus "die produktivste Wirtschaftsmaschine sei, die die Menschheit jemals erfunden habe." Und auch noch alternativlos, seit die kommunistische Wirtschaftsordnung im Osten so grandios gescheitert ist.

Er habe nicht nur die Welt beispiellos vernetzt und verdichtet und die Welt, zumindest was die Konfrontation unter den Großen angeht, in bemerkenswerter Weise politisch stabilisiert, sondern auch weite Bevölkerungsschichten wie in China, Indien und Brasilien, die die Dynamik von Märkten und freiem Handel erkannt hätten, aus ihrer Armut und Abhängigkeit geführt. Und das, wie wir langsam zu merken beginnen, nicht immer zur Freude der Menschen in den reichen Staaten im Westen.

Allein im letzten Vierteljahrhundert habe sich der Ertrag der Weltwirtschaft alle zehn Jahre verdoppelt. Noch zwei Jahre vor der Krise wiesen weit mehr als Hundert Länder ein Wirtschaftswachstum von vier Prozent und mehr auf. Gleichzeitig seien die Rezessionen nicht mehr so schlimm ausgefallen wie früher und dauerten statt zwei Jahre durchschnittlich nur noch acht Monate. Außer Zimbabwe beklage kaum noch ein Land eine galoppierende Inflation, während es vor vierzig Jahren noch ein paar Dutzend Länder waren.

Krise des politischen Systems

Und dass auch die Kapitalisten für die Krise nichts könnten, die Vorstände ihre Unternehmen vielmehr klug und profitabel geführt hätten, zeigten auch die robusten Wirtschaftsdaten so großer Firmen wie Nike, Coca-Cola, IBM und WalMart. Was wir gegenwärtig erlebten, sei folglich keine Krise des Kapitalismus, auch nicht eine von Bankstern, dumpfer Gier oder korrupten Politikern, sondern eine Krise der Demokratie und ihrer moralischen Grundlagen.

Das demokratische System in den USA ist offenbar nicht in der Lage, der Bevölkerung ein kurzfristiges Elend zugunsten eines langfristigen Erfolgs zuzumuten. Weil das so sei, blieben große Themen wie soziale Sicherheit, Gesundheit und Einwanderung auf der Strecke. Statt den billigen Geldfluss zu stoppen und die Liquidität aus dem Markt zu nehmen, habe man ihn durch niedrige Zinssätze noch befeuert. Und statt antizyklisch zu handeln, ein überhitztes Wachstum mit rigiden Mitteln zu dämpfen, haben sowohl die FED als auch der Kongress und der Präsident sich vor ihrer Verantwortung gedrückt und lieber den bequemen Weg des Laufenlassens gewählt.

Die Krise sei aber auch, davon ist Zakaria überzeugt, auch eine moralische, die an den Grundfesten der Demokratie nagt. Weniger der bloßen Gier und reinen Profitmache, wie Gräfin Dönhoff vielleicht meint, sondern eine Krise der fehlenden "Selbstregulierung". Kein politisches System der Welt könne ohne gewisse Spielregeln auskommen ( Die Spielregeln, nicht die Spieler), auch nicht die USA.

Der Fehler der letzten Jahrzehnte sei es gewesen, dass nach dem Finanzsystem auch das politische System glaubte, ohne Regulierung auskommen zu können. Daher brauche nicht nur die "Wall Street" strikte Regeln, sondern zuallererst die "Pennsylvania Avenue". Zu lange hätte die Politik dort der "institutionalisierten Korruption" zugeschaut, etwa wie Politiker bestimmten Unternehmen Steuerschlupflöcher gewährten, sie Lobbyistenfreunde begünstigten und auf diese Weise das Staatdefizit in exorbitante Höhen getrieben haben.

Besser aufgestellt

Schließlich sei die Krise auch eine der Globalisierung. Technologie und Kapitalismus hätten zwar den Handel ausgeweitet, die Politik werde aber weiter national betrieben. Ohne bessere internationale Abstimmung werde es in Zukunft noch mehr solche Crashes geben. Wohl wahr, denn die bisher gemachten Beschlüsse der G 20 lassen in dieser Beziehung keinen allzu großen Optimismus aufkommen ( The G20 summit is lousy value for money. Cancel it).

Das demokratische System der Bundesrepublik mag, was das politische System angeht, besser aufgestellt sein als das angloamerikanische System. Stolz verweist Helmut Schmidt auf Artikel 20 des Grundgesetzes, darauf, dass Deutschland ein "demokratischer und sozialer Bundessstaat" sei, in dem der Wettbewerb weitgehend gesetzlich reguliert ist, es ein soziales Netz gebe, in dem jeder Vierte von staatlichen Renten und Pensionen lebe, jeder Zwölfte von Arbeitslosengeld oder staatlicher Sozialhilfe, sowie ein öffentlicher Sektor existiere, der sich um Schulen und Universitäten kümmere und sich für Straßen, Polizei und Bundeswehr verantwortlich zeige.

Entscheidungen anderswo

Doch der Neunzigjährige sollte sich nicht täuschen. Da kann er sein Land noch so preisen und es zur "Kapitalismus freien Zone" erklären. Das Monopoly-Spiel findet nicht in Berlin, Paris oder Brüssel statt, sondern in Peking, Washington und anderen BRIC-Staaten ( Die Europäer müssen sich anstrengen).

Allein China sitzt mittlerweile auf einer Kriegskasse von 2 Billionen Dollar. Und auch die anderen, aufstrebende Staaten haben Geldreserven von jeweils mehreren 100 Milliarden Dollar angehäuft. Dieses Geld sucht nach sicheren und lukrativen Anlagehäfen. Und die befinden sich aufgrund der hohen Verschuldung nun mal in Amerika, was die Zinsen dort niedrig halten und Land und Leute zum weiteren Leben auf Pump und ungehemmten Konsumieren anhalten wird.

Solange die Weltwirtschaft in diesem eklatanten Ungleichgewicht verharrt und die beiden Global Player ihre gegenseitige Abhängigkeit nicht stabilisieren ( China lehnt Bildung einer G2 mit USA ab), ist der nächste Finanzcrash vorprogrammiert. Da kann die EU oder auch die Bundesrepublik noch so wirksame Aufsichten über alle Arten von Finanzinstituten und Wertpapieren anmahnen und beschließen. Recht viel bewirken werden sie damit jedoch nicht.