"Kein Austritt von Radioaktivität"

Der tödliche Unfall in der Nähe des Kernkraftwerks Marcoule und die Diskussion über das französische Nuklearprogramm

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Mit einiger Nervosität reagierte die französische Öffentlichkeit am heutigen Montag auf die Nachricht, im südfranzösischen Atomanlagenpark von Marcoule habe sich um die Mittagszeit eine Explosion ereignet. Alle Tages - und Wochenzeitungen setzten die Information als Breaking News.

Seit dem Atomunfall im japanischen Fukushima wuchs die Besorgnis in Teilen der Öffentlichkeit Frankreichs, das einen besonders überdimensionierten Atompark besitzt. 58 Reaktorblöcke sind am Laufen, das ist die weltweit zweithöchste Anzahl - übertroffen nur noch durch die USA, aber gemessen an der Bevölkerungszahl liegt Frankreich damit einsam an der Spitze.

Konkret ereignete sich heute um 12.37 Uhr eine Explosion in einem Schmelzofen, in dem sogenannte "schwach radioaktive Abfälle" - deren Bezeichnung nicht signalisiert, dass sie ungefährlich wären - eingeschmolzen werden.

Das Atomzentrum in Marcoule war seit den späten fünfziger Jahren zunächst eng mit der Entwicklung der französischen Atombombe verbunden und war der Standort, an dem erstmals in Frankreich Plutonium hergestellt wurde. Heute stehen dort sowohl eine militärisch genutzte kleinere Atomanlage und eine Fabrik zur Herstellung von Brennelementen aus MOX - einem Uran-Plutonium-Gemisch - , als auch mehrere Anlagen, die Materialen aus demontierten und zum Abriss bestimmten Atomkraftwerken recyceln. In Marcoule werden auch Atomabfälle eingelagert, die Dauer der Zwischenlagerung wird derzeit mit 300 Jahren angegeben. Dort geschah der Unfall. Marcoule könnte ferner in der Zukunft zum Standort eines EPR, also eines der geplanten Reaktoren der "dritten Generation", werden.

Bei der Explosion in Marcoule wurde ein Mitarbeiter getötet, der nur als verkohlte Leiche geborgen werden konnte, und vier wurden verletzt. Das Unglück ereignete sich nicht unmittelbar auf dem Gelände des Atomkraftwerks, sondern in dessen Nähe. Das AKW und die anderen Anlagen (MOX-Fabrik, nukleare Abbruchunternehmen, ..) bilden zusammen einen Komplex, eine Art "nukleares Industriegebiet". Die Anlage in Marcoule wurde schon früher durch die Strahlenschutzbehörde gerügt.

Kurz nach Eintritt der Explosion aktivierte die französische Strahlenschutzbehörde ASN ihr Krisenzentrum in einem südöstlichen Stadtteil von Paris. Um dieselbe Zeiten berichteten die Medien, das Austreten von Radioaktivität werde befürchtet. Bislang heißt es, dass es nicht dazu gekommen sei.

Ruhig zurücklehnen?

Umweltministerin Nathalie Kosciuscko-Morizet begab sich an den Ort des Geschehens und wurde um circa 17.15 Uhr dort erwartet. Die französischen Grünen forderten "völlige Transparenz" über Unfallhergang und -ursachen.

Teile der Öffentlichkeit dürften sich nicht so schnell beruhigt zurücklehnen. Seit dem Fukushima-Unfall ist auch in Frankreich die Kritik und Skepsis gegenüber der Atompolitik gewachsen. Im Juni dieses Jahres war bekannt geworden, dass es auf der Baustelle des EPR-Reaktors in der Normandie - einer der beiden Reaktoren dieses Typs, die sich weltweit im Bau befinden, neben einem AKW-Projekt in Finnland - schwerwiegende Versäumnisse gab. Im Jahr 2010 gab es dort 112 Arbeitsunfälle, von denen 38 nicht angemeldet worden waren. Allein im Frühjahr dieses Jahres starben bei weiteren Unglücken zwei Arbeiter.

Unterdessen wurde vor wenigen Tagen das Ermittlungsverfahren gegen die Lügen, die nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 amtlich verbreitet worden waren, spektakulär eingestellt. Damals hatten französische Behörden behauptet, es bestehe keinerlei Gesundheitsgefahr, und die radioaktive Wolke habe den Rhein nicht überquert. Personen, die in der Folgezeit an Krebs erkrankt waren - wobei eine hohe statistische Wahrscheinlichkeit für einen Zusammenhang mit der Strahlenwolke besteht -, hatten Anzeige erstattet. Nun wurde das gesamte mehrjährige Ermittlungsverfahren gerichtlich abgeschmettert.