Das Todesspiel

Das Milgram-Experiment wird in einer französischen TV-Show nachgespielt: die Kulturwächter warnen und Teilnehmer halten entgegen, dass sie mitgespielt haben, weil sie wussten, dass es nur ein Spiel ist

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"Verbrechen im Visier" und "Louis, der Trödelhändler" räumten weitaus bessere Quoten ab. Nur 3,4 Millionen Zuschauer sahen das "Todesspiel", das groß angekündigte Fernseheignis in Frankreich.

Das Ereignis war gut vorbereitet. Dass das Milgram-Experiment in einer "La Zone Xtreme" getauften Realityshow ins Fernsehen gebracht werden sollte, das sorgte im Mai letztes Jahres, nach Abschluss der Dreharbeiten, für große Aufregung (siehe Elektroschock-TV) und Gänsehaut.

"80 Kandidaten, die an der Aufzeichnung eines Quiz teilnehmen, ohne zu wissen, dass sie nicht einer neuen Fernsehshow beiwohnten, sondern einem öffentlich-rechtlichem Experiment zur Erkundung des Reality-TVs und seiner Grenzen."

"Bei diesem falschen Spiel", so schrieb Telepolis-Autorin Nathalie Roller, "treten zwei Kandidaten gegen einander an. Der erste Kandidat wird in eine Zelle auf der TV-Bühne gesperrt, an einen Stuhl festgebunden und hat eine Minute lang Zeit, sich 27 Wortkombinationen zu merken. Der zweite Kandidat befragt ihn anschließend zu diesen Wortpaaren und versetzt ihm bei jedem Fehler einen Stromschlag. Erster Fehler: 20 Volt. Zweiter Fehler: 40 Volt, usw. Bis zur maximalen Dosis von 460 Volt."

Der Gequälte war natürlich ein Schauspieler, weder der gespielte Schmerz, noch die Stromschläge waren echt, ganz im Sinne des Orginalexperiments.

Haarsträubendes Ergebnis..

Verpackt war der Showteil in eine Aufklärungssoirée von France 2, wo es den Machern Christoph Nick und Thomas Bornot darum ging, darüber zu diskutieren, wie weit "uns" das Fernsehen, insbesondere das Reality-TV, gebracht hat. Die Medien machten fleißig mit, unzählige Artikel verwiesen auf das haarsträubende Ergebnis des "Todesspiel"-Experiments : Von den 80 Teilnehmern hatte jeder das Prinzip des Spiels akzeptiert, nur 9 hörten bei den ersten Schmerzreaktionen des Gequälten mit den Stromschlägen auf, 7 hörten damit auf, bevor der Schauspieler Ohnmacht simulierte, der Rest, in beeindruckenden Prozentzahlen 81%, hielt bis zum Schluss "voll drauf" und verteilte Stromschläge von 460 Volt an den Mitspieler. Und viele Artikel verwiesen auf die Diskussionsforen bei France 2 zum Spiel, zum Dokumentationsabend und zur Frage, was das Fernsehen mit uns machen kann.

..aber Teilnehmer wussten Bescheid

Auch Le Monde schrieb gestern - unter dem Titel: Kann uns TV zum Folterknecht machen? -, dass jene, die "das Todesspiel" am Mittwochabend gesehen hätten, nie wieder so fernsehen würden wie vorher. Zitiert werden darüber hinaus Kulturexperten, die davor warnen, dass der Kurs zur Aufmerksamkeitsgewinnung durch Übertragung des Todes vor der Kamera längst eingeschlagen sei (als ob es das nicht schon spätestens seit dem Irak-Krieg gebe). Das Todesspiel stimulierte mehrere solche Phrasen der Übertreibung, wie sie empörte Kulturwächter seit jeher lieben, und lieferte weitere Beispiele für naive Sichtweisen von Kulturkritikern, die Medieninkompetenz unterstellen, wo differenziertere Wahrnehmung nötig wäre - und auch für interessantere Schlüsse und Beobachtungen sorgen würde.

Wie aus dem Zeitungsbericht hervorgeht, bestätigten manche Teilnehmer, dass sie deswegen das "Spiel bis zum Ende gespielt" hätten, weil sie wussten, dass es "nur ein Spiel" sei und sie nicht "ernsthaft" gehandelt hätten. Das erscheint plausibler als die Annahme, man könnte ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung des Milgram-Experiments und einer Menge Varianten des Experiments in Film und Fernsehen heute noch vorgeben, dass man es mit Kandidaten zu tun habe, die davon keine Ahnung haben.

Ob man tatsächlich Neues darüber erfahren hat, was Reality TV beim Zuschauer auslösen kann? Anders als beim Ursprungsexperiment drängte nicht eine Autorität, der Versuchsleiter, auf die Verabreichung der Stromschläge - "Bitte fahren Sie fort! Das Experiment erfordert, dass sie weitermachen! Sie müssen unbedingt weitermachen! Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!" - , sondern war diese Einwilligung Teil eines Spiels. Inwieweit hier angeheizte Zuschauer mit Buhrufen bzw. Applaus das Geschehen mitsteuern, wurde von den Autoren der Fernsehdokumentation "Wohin geht das Fernsehen?" laut Le Monde nur wenig in ihre Rechnung einbezogen.