Soziale Klimaerwärmung

Außer Kontrolle

Die Chancen stehen gut für eine Erhöhung der ALG II-Regelsätze und Gutscheine für Sportvereine und Musikschulen soll es auch geben. Soziale Klimeerwärmung sozusagen. Oder doch weiterhin Eiszeit?

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Seit das Bundesverfassungsgericht die Berechnungsmethoden bei den ALG II-Regelsätzen monierte, warten viele gespannt darauf, ob sich die Regelsätze erhöhen werden oder nicht. Für Kinder, so heißt es mittlerweile, sollen insbesondere die bei den Regelsätzen vernachlässigten Bildungsausgaben durch Gutscheine für Musikunterricht, Sportvereine und dergleichen mehr ausgeglichen werden.

"Der Traum von 41 Euro mehr" wird geträumt, von 400 Euro Regelsatzhöhe statt 359 Euro. Soziale Klimaerhöhung per Gut- und Geldschein könnte man dies nennen. Doch die vermeintliche plötzliche soziale Wärme kann nichts gegen die Eiszeit bewirken, die seit Jahren in Bezug auf den Sozialstaat und die Solidarität der Menschen untereinander herrscht - und an deren Weiterführung Politik und Medien gleichermaßen fleißig arbeiten.

So schreibt die Süddeutsche Zeitung in ihrem Artikel: "Mit Gutscheinen für Musikunterreicht oder den Sportverein ist das Geld gebunden. Es kann nicht in Zigaretten oder neue Spiele für die Playstation investiert werden." Damit wird auf den Punkt gebracht, was seit Jahren von der Politik ohne jegliche Belege postuliert und von vielen widerspruchslos übernommen wird: ALG II-Empfänger geben das Geld, das für die Kinder da sein soll, sowieso für sich selbst aus, die Kinder gehen leer aus. Daher würde natürlich eine Erhöhung der Kinderregelsätze nur dazu führen, dass sich die ohnehin schon in Saus und Braus lebenden ALG II-Empfänger eher eine Playstation oder neue Spiele kaufen, nicht aber dafür, dass die Kinder etwas von dem Geld hätten.

Diese Ansicht (davon abgesehen, dass die Belege dafür, dass ALG II-Empfänger eher dazu neigen, Geld für die Kinder für sich selbst auszugeben als Nicht-ALG II-Empfänger) fußt auch auf der Tatsache, dass Geld nur explizit für die Kinder oder für die Eltern ausgegeben werden kann und greift damit ein grundlegendes Problem auf: Die Politik denkt einseitig. So wurde z.B. schon im November 2009 beklagt, dass das "Kindergeld nicht bei den Kindern ankommt" und stattdessen zur Schuldentilgung oder für den Urlaub ausgegeben werde. Doch die explizite Trennung von Ausgaben in jene, die den Kindern direkt helfen, und denen, die das nicht tun, ist weitaus komplexer, als sie das bloße "Urlaub = nicht für das Kind, Kinderschuh = direkt für das Kind"-Denken darstellt. Um dies zu begreifen, müsste aber nicht nur bei der Debatte um Kindergeld und Gutscheine nicht mehr in Kindeswohl und Gelder für Erwachsene aufgeteilt werden, sondern ein Familienwohl ebenso bedacht werden.

Banal ausgedrückt: Warum sollte eine Playstation nicht genauso auch dem Kindeswohl dienen? Warum ist die Playstation, genauso wie der Fernseher, der oft genug in Diskussionen als schon symbolhaltiger Beweis für das Verprassen der ALG II-Leistungen angeführt wird, so zum Sinnbild des Hedonismus und des Egoismus verkommen, während das Mensch-ärgere-dich-nicht-Brett quasi als romantisch-verklärtes Sinnbild des gemeinsamen Familienabends dient? Als wäre nicht eine Spielekonsole, genauso wie Fernseher, Videorecorder, DVD-Spieler oder Computer, heutzutage eben auch eine Möglichkeit, das Familienleben zu gestalten, fernab des "Göre-vor-der-Glotze-Parkens". Gemeinsames Bowling dank Wii scheint bei denjenigen, die stets Playstation und Co. als Ausgabe per se verteufeln, undenkbar zu sein und würde wahrscheinlich mit einem realitätsfernen "Geht halt live bowlen" beantwortet werden, ungeachtet der Kosten, die ein Bowlingabend mit sich bringen kann.

Die Playstation dient hier einfach einmal öfter als Symbol des Verprassens, des sinnlosen Anschaffens auf Kosten der Kinder. Als sei der Kauf einer vernünftigen Hose für das Kind das Nonplusultra, als sei nicht auch Nichtmaterielles wie Liebe, Zuneigung und Zeit mit Materiellem verknüpfbar. Manch einer wird nun wieder auf die gute alte Zeit mit den Regenwürmern im Fluss und den Spielen im Wald verweisen, auf all das, was ja früher, glaubt man all diesen Erzählungen, Standard war. Das fröhlich-unbefangene Spielen auf den Grünflächen, die selbstgemachte Angelrute, die selbstgebauten Baumhäuser... doch dabei wird die Sicht der Dinge extrem verklärt und die Gegenwart, in der Kinder lediglich Dreck und Lärm für viele bedeuten, ausgeblendet.

Für Viele ist das Spielen im Wald nicht mehr möglich, dank moderner Stadtplanung sind Spielplätze nur noch Sandoasen im Betonmeer, das letzte Grün wich einem Parkplatz, die Hecke wird akribisch gestutzt und der Spielplatz ist, zynisch gesagt, bitte nur mit sauberen Schuhen und lärmfrei zu betreten, so dass die lieben Nachbarn sich nicht beschweren. Auch das ist die soziale Kälte heutzutage, wobei man hier aber die Elternschaft, die auch schon einmal in jeder Bitte um etwas Mäßigung einen Affront gegen die unbeschwerte Kindheit sieht, die meint, dass auch in der 23-Uhr-Theatervorstellung der Säugling mitkommen sollte und im entscheidenden Moment dann sein Gebrüll loslässt, nicht ausklammern sollte. Rücksichtnahme, Toleranz, Verzicht, Kompromissbereitschaft? Fehlanzeige. Auch das ist soziale Kälte.

Doch die gesamte Debatte um die Regelsätze scheint sich nunmehr an der Höhe der Regelsätze aufzuhängen, wobei dann die 41 Euro mehr, die es geben könnte, anscheinend die Erhöhung der sozialen Temperatur darstellen sollen. Dabei hat die soziale Kälte, die das Land seit langem ereilt, nur wenig mit der Höhe irgendwelcher Gelder zu tun - egal ob der ALG II-Empfänger nun 400, 200 oder 800 Euro erhält, die Tatsache bleibt, dass er in der Gedankenwelt der Gesellschaft längst als schmarotzender, arbeitsunwilliger, schwarzarbeitender und tricksender Proll angekommen ist, der froh sein darf, dass er überlebt und insofern sich voller Demut und Dankbarkeit in jeden beliebigen Job einfügen soll, fröhlich dabei das Liedchen des "1-Euro-Moorsoldaten" trällernd.

ALG II-Empfänger sind die Aussätzigen der Gesellschaft geworden, die Solidarität zu ihnen wurde durch unwidersprochen postulierte Fantasiezahlen wie die der 25%-Missbrauchsquote und Co. endgültig auf dem Schuttplatz der Bundesregierung entsorgt, wo sich auch die einstige Idee eines soziokulturellen Existenzminimums für jeden findet. Der Sozialstaat soll nur noch die wirklich Kranken und Hilflosen irgendwie durchfüttern, der Rest soll arbeiten und malochen für ein paar Cents mehr, auf dass er dadurch seine Solidarität zum Land und eben jener Gesellschaft, die seit langem auf ihn spuckt, unter Beweis stellt.

In der absoluten Endlosschlaufe wird der ALG II-Empfänger so gleich zum emotionalen Sandsack für Viele. Für diejenigen, die ihre Steuern zahlen und ihre Wut ob ihrer hohen Zahlungsverpflichtungen nicht gegen jene richten, die dafür stehen, wie diese Steuern verwandt, zum Fenster rausgeworfen oder aber erlassen werden, sondern gegen jene, die sich ihren Kleinbetrag monatlich abholen, ohne dafür vor Dankbarkeit zu zerfließen. Für diejenigen, die befürchten müssen, dass ihr Minijob demnächst von einem 1-Euro-Jobber oder Bürgerarbeiter getan wird, so dass sie selbst sich in die Reihe derjenigen einreihen, auf die sie vorher herabschauten. Für diejenigen, die sich tagtäglich zu einem Hungerlohn in eine Arbeit begeben und die nicht überlegen, wieso es überhaupt möglich ist, dass sie zu diesem Hungerlohn arbeiten _müssen_, sondern stattdessen neidisch auf jene schauen, die womöglich fast genauso viel Geld wie sie haben, jedoch ohne Erwerbstätigkeit.

Für diejenigen aber, die weiterhin dafür sorgen, dass viele, die Geld hätten, nichts davon der Gesellschaft geben _müssen_, die ihrerseits jede Möglichkeit nutzen, um noch den letzten Cent für sich zu behalten, was dank diverser Steuertricks usw. machbar ist - für diese ist dies die optimale Situation. Denn was immer sie beschließen, die kurze Wut darüber wird aufflammen wie eine Kerze im Wind. Aber auf dem Scheiterhaufen stehen später andere.

Die soziale Kälte in Bezug auf ALG II-Empfänger, die die Politik wie auch die Medien seit langem forcieren, die sie durch eine fast schon pervertierte Idee des Lohnabstandsgebotes als Mittel zur Reduzierung der Sozialleistungen noch weiter ausdehnen, diese soziale Kälte wird auch durch 41 Euro mehr nicht verändert werden. Hier würde es der Politiker bedürfen, die den Mut haben, auf Pressekonferenzen nicht mehr ihre eigene hedonistische Roadshow zu veranstalten, sondern entschieden dem gegenübertreten, was von ihnen und ihren Vorgängern zur "Tatsache über ALG II-Empfänger" verklärt wurde. Die Verteidung dieses Gruppe bleibt aber weiterhin den ALG II-Erwerbsloseninitiativen überlassen, dafür wird die Mär des vor sich selbst zu beschützenden ALG II-Empfängers, der ohne Gutscheinregelung alles Geld verprassen würde und seine Kinder verwahrlosen lässt, weitergegeben, ohne sie jemals zu hinterfragen. Gegen diese soziale Kälte, die in diesem Denken steckt, nutzt auch das Eurofeuer nichts. Und gegen die Ellbogengesellschaft, die soziale Kälte als unabdingbar ansieht, schon gar nicht.