"40 Prozent aller Krebsfälle sind von Verhaltensweisen verursacht, die wir ändern können"

Eine britische Studie und die Ideologie der Selbstverantwortlichkeit

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Rund 130.000 Krebsfälle im Jahr sind auf einen ungesunden Lebenstil zurückzuführen, so das Ergebnis einer Studie der britischen Organisation Cancer Research. In Prozentzahlen zeigt sich die Erkenntnis, mit der die Studie von sich reden macht, noch deutlicher: "45 Prozent aller Krebserkrankungen bei Männern und 40 Prozent aller Krebserkrankungen der Frauen könnten vermieden werden."

Was von den Forschern an Risikofaktoren aufgezählt wird, ist meist bekannt. An erster Stelle rangiert das Rauchen als wahrscheinlicher Verursacher von 23 Prozent der Krebserkrankungen bei Männern, wobei in diesem Zusammenhang nicht nur Lungen- und Kehlkopfkrebs genannt werden, sondern auch Magen-, Speiseröhrenkrebs, sowie in der Harnblase. Bei Frauen werden 15,6 % der Krebsfälle auf das Inhalieren von Tabakrauch zurückgeführt.

Bei den anderen 5 "Top risk factors" für Männer finden sich neben Alkohol, an vierter Stelle, und Übergewicht, an fünfter Stelle, etwas überraschende Ergebnisse. Zu wenig Obst und Gemüse in der täglichen Ernährung wird als zweitwichtigster Risikofaktor eingestuft, was im Umkehrschluss so gedeutet wird, dass Obst und Gemüse eine überraschend wichtige Rolle bei der Prävention spielen.

Als drittwichtigster Faktor werden berufsbedingte Risiken aufgezählt, etwa wenn man am Arbeitsplatz Asbest ausgesetzt ist. Dass intensives Sonnenbaden ebenfalls zu den sechs wichtigsten Risikofaktoren zählt, dürfte manchen urlaubenden Briten zu denken geben. Bei den Frauen sind die Risikofaktoren laut Studie etwas anders verteilt. Übergewicht spielt hier eine weitaus größere Rolle als Alkohol, was die Studienverfasser mit Überraschung kommentieren: "Among women we didn’t expect being overweight to have a greater effect than alcohol."

Insgesamt erwähnt die Studie 14 Risikofaktoren, darunter auch zu viel Salz in der Ernährung, was in der Forschung nicht unumstritten ist - Ist Salz jetzt doch gesund? - und anzeigt wie viel Zeitgeist hinter dem stecken kann, was als schädlich präsentiert wird. Ob der kausale Zusammenhang eines Lebensstils, der die erwähnten Risikofaktoren vernachlässigt, und einer Krebserkrankung, so zweifelsfrei gegeben ist? Die Studie hütet sich in Formulierungen davor, Kausalität ausdrücklich zu benennen. So wird formuliert "Cancers linked to each risk factor". Man hat es also mit Korrelationen, möglicherweise auch Scheinkorrelationen, zu tun. Die gesundheitspolitische Botschaft, welche die Studienverfasser daraus ziehen, hat eine heikle Ambivalenz.

Denn wenn, wie nahegelegt wird, die Ursachen der Krankheit zu einem hohen Prozentsatz von der Lebensführung abhängen - "Looking at all the evidence, it’s clear that around 40 per cent of all cancers are caused by things we mostly have the power to change" - , dann ist das eine gute Vorlage für die Argumente jener, die seit längerer Zeit schon davon reden, dass solche, die ungesund leben, nicht unbedingt mit der Solidarität der Gemeinschaft zu rechnen haben, schließlich seien sie doch selbst für ihre Krankheit verantwortlich ( Should Smokers Pay More for Health Insurance?).

Skepsis gegenüber dieser politischen Strömung heißt nicht, sich dem Prinzip der Selbstverantwortlichkeit zu entziehen, es ist aber auffällig, dass die Ideologie der Selbstverantwortlichkeit mittlerweile einen Mythos aufgebaut hat, der zum Nachfolger der großen Erklärungsmuster geworden ist, die die Ursachen für Missstände nur auf der Seite der gesellschaftlichen Bedingungen gesehen haben. Dass Krebserkrankungen viel zu oft auch Menschen treffen, die gesund gelebt haben, ist ein Drama, das Betroffene und Nahestehende mit sehr schmerzhaften Fragen konfrontiert. Als prominentes Beispiel dafür sei hier der Biobauer und langjährige Vorsitzende der Grünen, Sepp Daxenberger, genannt, der schon in jungen Jahren an Krebs verschied - während der Altbundeskanzler Helmut Schmid trotz seines ausgiebigen Zigarettenkonsums mit seinen 92 Jahren fitter wirkt als mancher jüngere Gesundheitsapostel.

Zu erwähnen wäre in diesem Zusammenhang auch die Studie israelischer Forscher, die alte Menschen nach ihren gesundheitlichen Maximen befragt hat ( Lebensstil bei Hundertjährigen ohne Bedeutung).