"Alternativen zur Verwertungsindustrie" vs. "Überwachungssystem orwellscher Größenordnung"

Die EU befasse sich eher mit neuen Verschärfungen im Urheberrecht als mit der "neuen Kulturindustrie", bedauerte die EU-Parlamentarierin Eva Lichtenberger auf der Ars Electronica. Der Autor Gerd Leonhard plädierte für Flatrate-Abrechnungsmodelle.

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Von
  • Monika Ermert

Die grüne EU-Parlamentarierin Eva Lichtenberger rief Experten bei der Ars Electronica dazu auf, im Brüsseler Parlament mehr für eine "neue Kulturindustrie" zu werben. Parlamentarier auch der anderen Fraktionen, erklärte die Grüne, müssten mit den Alternativen zur klassischen Verwertungsindustrie besser vertraut gemacht werden. Das Parlament hinke mit seinen Gesetzesinitiativen hinter den aktuellen Entwicklungen oft hinterher. Lichtenberger zeigte sich vom Optimismus über die Unaufhaltsamkeit der Umwandlung der Kulturproduktion und Wissensökonomie überrascht. Gesetzgeberisch fürchtet sie eher einer Verschärfung der Gesetze zur Verteidigung des klassischen Rechteverwertungsmodells.

Die EU befasse sich aktuell eher mit neuen Verschärfungen im Urheberrecht und mit Ideen zur Sanktionierung von Urheberrechtsverletzungen durch Internet-Provider. Auf internationaler Ebene würde gar hinter verschlossenen Türen der Zugriff auf verdächtige Rechner diskutiert. "Helfen Sie uns", beschwor Lichtenberger die Referenten beim Ars-Electronica-Symposium über die "New Cultural Economy". Es gelte, auch die weniger internetaffinen älteren Kollegen, die das Netz nicht selbst nutzen, zu informieren und von den neuen Geschäftsmodellen zu überzeugen. "Das ist auch eine Generationenfrage", sagte Lichtenberger.

Der Musiker und Buchautor Gerd Leonhard hatte zuvor unterstrichen, künftig könne Kontrolle über Inhalte nur noch durch ein Überwachungssystem orwellscher Größenordnung realisiert werden. "Manche schlagen uns das vor", sagte Leonhard. Rechteinhabern wie Doug Morris, dem Chef von Universal Music, der argumentierte, niemand würde Coca Cola kaufen, wenn es aus dem Wasserhahn komme, rät Leonhard: "Verkaufen sie eben eine Lizenz pro Wasserhahn." Für ihn ist es ausgemacht, dass nur die Unternehmen überleben werden, die sich als Teilhaber einfacher Flatrate-Abrechnungsmodelle aufstellen. Geld sei nämlich nicht das Problem, es gebe eine Menge Geld für Inhalte im konvergenten Netz. Vermutlich könne allein die Hardware-Industrie die gesamte Musikbranche finanzieren, meint Leonhard.

Der Berliner Medienforscher Volker Grassmuck verwies darüber hinaus auf die positiven wirtschaftlichen Effekte der Piraterie. Letztere sei die Hauptquelle für die Akkumulation von Kapital im Medienbereich, das zeige nicht nur die Entwicklung der Verlagsbranche in den USA des 19. Jahrhunderts. Raubkopierte Bücher schufen dort einen Massenmarkt und mit wachsender Nachfrage nach Literatur aus Europa wurden schließlich auch die Autoren und europäischen Verlage entlohnt. Der durch den Klau seiner Texte in den USA bekannt gewordene Charles Dickens verdiente immerhin 228.000 US-Dollar bei einer Lesereise durch die Staaten im Jahr 1867.

Als modernes Pendant zu den reich gewordenen US-Piraten präsentierte Grassmuck die Filmpiraten in Nigeria. Durch einen Boykott der US-Filmwirtschaft auf Raubkopien angewiesen, wurde in dem Erdöl exportierenden Land die Nachfrage nach Videorecordern angekurbelt; mit der Massennachfrage nach Inhalten und dem Kapital aus dem Piratengeschäft entstand schließlich Nollywood, laut Grassmucks Bericht die drittgrößte Filmproduktion nach Holly- und Bollywood.

Paul Keller, Projektchef beim Think Tank "Knowledge Land" und Leiter des niederländischen Creative-Commons-Projekts, beschrieb seinerseits die negativen Effekte des über die Jahre immer weiter verschärften Urheberrechtssystems. In den Niederlanden werde aktuell mit 150 Millionen Euro öffentlicher Förderung der Archivbestand der Rundfunkanstalten digitalisiert. Doch dem Zugriff auf die digitalisierten Inhalte stehe das Urheberrecht der Macher und Darsteller aus den 50er- und 60er-Jahren entgegen. Nur einzelne Inhalte, die den Weg auf Youtube finden – und die eigentlich illegal sind – seien aktuell greifbar. Ähnlich sehe es im Dokumentarfilm oder bei kleineren Filmproduktionen aus, etwa bei Arthaus-Produktionen. Eine Plattform, die solche Filme aktuell und auf hohem, technischem Niveau anbiete, könne dies nicht legal und gegen Geld tun. "Ich wäre bereit, für jeden der Filme zu bezahlen, aber ich kann es nicht", erklärte Keller.

Zur Ars Electronica 2008 siehe auch:

(Monika Ermert) / (jk)