Die Amazon-Strategie

Amazon steckt die gesamte Konkurrenz im Online-Einzelhandel in die Tasche, weil der Konzern permanent in technische Innovationen reinvestiert. Der Preis dafür: ein profitloses Hyperwachstum.

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Von
  • George Anders

Amazon steckt die gesamte Konkurrenz im Online-Einzelhandel in die Tasche, weil der Konzern permanent in technische Innovationen reinvestiert. Der Preis dafür: ein profitloses Hyperwachstum.

Warum haben einige Geschäfte Erfolg während andere pleite gehen? Diese Frage beschäftigt Einzelhändler seit Generationen, mit unterschiedlichen Antworten. Ende des 19. Jahrhunderts setzte man auf die Architekten. Erfolgreiche Händler wie Marshall Field errichteten Einkaufspaläste, die so prachtvoll waren, dass die Kunden von selbst hineinströmten. Im frühen 20. Jahrhundert wurde der Postversand zur „Killer App“, mit Sears Roebuck an der Spitze der Bewegung. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts eroberten supereffiziente Vorstadt-Discounter wie Target und Walmart das Geschäft.

Nun wird der Kampf im Netz ausgetragen. Ein Sieger ist bislang noch nicht richtig auszumachen. Riesen wie Walmart und kleine Händler wie Tweezerman.com betreiben alle ihre eigenen Webseiten, um die rasant wachsende Kundennachfrage zu bedienen. 2012 legte der Online-Einzelhandel in den USA um 15 Prozent zu – sieben mal so stark wie der traditionelle Einzelhandel. Der Preiskampf ist allerdings gnadenlos, und die Profite sind, wenn es überhaupt welche gibt, minimal. Dieser 186 Milliarden Dollar schwere Markt gleicht einem vergifteten Geschenk: zu groß, um es zu ignorieren, zu trügerisch, um sich darauf einzulassen.

Selbst der Primus der Branche, Amazon, verfolgt ein Geschäftsmodell, dass so manchen ratlos macht. Auf der einen Seite fährt der Online-Händler in diesem Jahr einen Umsatz von 75 Milliarden Dollar ein. Auf der anderen Seite schreibt er rote Zahlen: Im vergangenen Quartal verbuchte Amazon einen Verlust von 41 Millionen Dollar. Gründer und CEO Jeff Bezos ficht das nicht an. Als er einmal darauf angesprochen wurde, dass Amazon nur für einen kurzen Zeitraum im Jahre 1995 profitabel war, frotzelte er, das sei „wahrscheinlich ein Fehler“ gewesen.

Schaut man genauer hin, wird jedoch eine Strategie erkennbar. Amazon schaufelt permanent Geld zurück in sein Geschäft. Das geht zum Beispiel in die geheimniskrämerische Forschungsabteilung des Konzerns, Lab 126, die am Kindle der nächsten Generation und anderen mobilen Geräten arbeitet. Amazon gibt zudem viel Geld aus, die modernsten Lagerhäuser zu errichten, den Kundendienst noch geschmeidiger zu machen und andere Ideen zu entwickeln, die den Marktanteil weiter vergrößern. Der frühere Amazon-Manager Eugene Wei hat es kürzlich in einem Blogeintrag so zusammengefasst: „Das Kerngeschäft von Amazon wirft bei jeder Transaktion Profit ab. Der Grund, dass man den nicht sieht, ist, dass es massiv investiert, die Verkaufsbasis immer weiter auszubauen.“

Die meisten Investionen gehen in die Technik. Denn für Amazon ist der Einzelhandel im Wesentlichen eine gigantische Aufgabe für Ingenieure. Algorithmen bestimmen alles, von der Art und Weise, wie das digitale Schaufenster eingerichtet ist, bis zur optimalen Auslieferung. Andere große Händler geben hingegen viel Geld für Werbung aus und vertrauen auf ein paar hundert Ingenieure, den Laden am Laufen zu halten. Amazon jedoch begnügt sich mit einem geradezu mickrigen Werbebudget, während es Tausende von Ingenieuren beschäftigt, die direkt nach ihrem Uniabschluss vom MIT, der Carnegie Mellon University und vom California Institute of Technology angeworben werden.

Das hat sich inzwischen auch bei der Konkurrenz herumgesprochen. Walmart, der größte Einzelhändler der Welt, hat vor zwei Jahren ein Forschungszentrum im Silicon Valley eröffnet, das seine eigene Suchmaschine entwickelt. Der Konzern hält auch beständig nach Start-ups Ausschau, die es aufkaufen kann. Wer mit Amazon konkurrieren will, muss aber mehr tun als ein digitales Schaufenster und eine App zu bieten. Um es mit Amazons reibungsloser Lieferkette aufzunehmen, kam Walmart kürzlich auf die Idee, Kunden in seinen Einkaufszentren als Auslieferer für Online-Kunden anzuheuern.

Dass Amazon ein Innovator ist, ja sein muss, liegt an drei Defiziten, die es im Vergleich zum klassischen Einzelhandel hat: Es gibt keine Einkaufszentren, in denen Kunden die Waren in die Hand nehmen können; es gibt keine Verkäufer, die sich um Kunden kümmern können; und es gibt für Kunden nicht die Möglichkeit, ihre Waren gleich nach dem Bezahlen in Besitz zu nehmen. Alles, was die Amazon-Ingenieure erfinden, dient letztlich dazu, diese fundamentalen Defizite vergessen zu machen.

Wie gewitzt Amazon dabei ist, zeigt sein wachsendes Patent-Portfolio. Seit 1994 haben Amazon.com und die Tochterfirma Amazon Technologies 1263 Patente angemeldet. Zum Vergleich: Walmart hat es in der gleichen Zeit auf 53 Patente gebracht. Jede Amazon-Erfindung soll den Einkauf auf der Webseite etwas einfacher und ein bisschen verführerischer machen, oder zumindest die Kosten senken helfen.

Ein Beispiel ist das US-Patent Nr. 8.261.983 zu „generated customized packaging“, erteilt Ende 2012. Worum es dabei geht, erläutert Dave Clark, der die 100 Lagerhäuser des Konzerns managet: „Wir versuchen, Pakete mit immer weniger Luft zu packen.“ Die Vorstellung, alles in ein klobiges Standardpaket zu packen und dafür auch noch ein paar Cent extra an die Zusteller zu bezahlen, ist Clark zuwider. Denn bei einer Milliarde Lieferungen addieren sich diese Extra-Cents zu einer stattlichen Summe. Amazon hat stattdessen 40 verschiedene Paketformate entwickelt und ist damit immer noch nicht zufrieden. Hier kommt nun das Amazon-Patent ins Spiel: Wenn ein Kunde ein besonders seltsam geformtes Produkt kauft, rechnet eine Software aus, wie man es am besten verpackt und die passende Box innerhalb von 30 Minuten herstellt.

Dagegen zu konkurrieren, ist sehr schwer. Tausende Online-Händler buchen sich deshalb lieber in das Ökosystem von Amazon ein. Firmen wie EasyLunchboxes.com haben ihr gesamtes Inventar in die Amazon-Lagerhäuser verlagert, wo sie für die Auslieferung ihrer Waren und andere Dienstleistungen eine Kommission zahlen. Dieses System entwickle sich inzwischen zu einem hochlukrativen Geschäft für Amazon, sagt Heath Terry, Analyst bei Goldman Sachs. Amazon werde aus solchen Auslieferdiensten 2014 einen Umsatz von 3,5 Milliarden Dollar generieren. Terry schätzt den Wert dieses Nebengeschäfts auf 38 Milliarden Dollar oder 20 Prozent des Börsenwerts von Amazon.

Härter wird es, wenn man mit Amazon in den Ring steigt. Nach Berechnungen von Internet Retailer übertrifft der Umsatz von Amazon den der zwölf nächstgrößeren Konkurrenten zusammengenommen. Der drittgrößte Einzelhändler Target räumte dieses Jahr in einer Behördenangelegenheit ein, dass „die digitalen Erlöse einen immateriellen Teil der Gesamterlöse“ darstellten. Die beste Strategie für Händler, die auch ins Online-Geschäft einsteigen, ist, sich Nischen zu suchen, die der Platzhirsch noch nicht besetzt hat. Dazu gehören „Flash Sales“, mit denen man Impulskäufer überrascht, oder auch im Netz schwierige Warenkategorien wie Lebensmittel. Die meisten Neuzugänge auf dem Markt verlieren jedoch Geld.

Das profitlose Hyperwachstum von Amazon ist indes ein Problem für sich. Die Amazon-Entwickler wollen auch das lösen. So wurde etwa das „Buy this, too“-Patent aus dem Jahr 2000 in den vergangenen zwei Jahren um fast ein Dutzend zusätzliche Ideen erweitert, um den Kunden noch mehr Geld aus der Tasche zu locken. Ein Dreh dabei sind die Versandgebühren: Man schlägt dem Kunden noch ein Taschenbuch vor, mit dessen Kauf er die Schwelle überschreitet, ab der die Versandgebühren entfallen.

Die Idee ist an sich alt, schon in klassischen Läden wussten die Verkäufer zu fragen, ob der Kunde zum Anzug vielleicht noch eine Krawatte möchte. Im Rund-um-die-Uhr-Imperium von Amazon wird diese alte Strategie jedoch mit der Präzision eines Spieltheoretikers auf die Spitze getrieben. Bereits einige Wochen vor dem Start des Vorweihnachtsgeschäfts kündigte Amazon an, dass 25 Dollar für eine versandkostenfreie Lieferung nicht mehr genügen. Die neue Schwelle liegt jetzt bei 35 Dollar. (nbo)