Der "redaktionelle Fehler" oder: wie die Göttinger Polizei die Welt sieht

Außer Kontrolle

Das Verwaltungsgericht in Göttingen hat eine Entscheidung zum Thema Zivilpolizisten bei Demonstrationen getroffen. Der Prozessvertreter der Polizei sieht das Problem im falsch formulierten Gesetz

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Zivilpolizisten bei Demonstrationen stellen für Demonstrierende ein Problem dar – zum einen ist auf Grund der Tatsache, dass die Polizei hier in Zivil auftritt, nicht klar, wann ein Polizist beispielsweise als "agent provocateur" agiert, also Streitereien oder Fehlverhalten während der Demonstration verursacht oder zur Eskalation beiträgt, zum anderen steigt das Gefühl, ständig im "Auge der Staatsmacht" zu sein, ohne selbst auf "Augenhöhe agieren zu können". Zwar sind bereits die uniformierten Polizisten kraft Gesetz auf einer höheren Machtebene, dennoch können sie wenigstens auf Grund ihres Äußeren durch die Demonstrierenden (mit)beobachtet werden, sie sind im Blickfeld und ihr Verhalten transparent. Zivilpolizisten entziehen sich dieser Transparenz.

Das Versammlungsrecht wird auf Länderebene geregelt, das Niedersächsische Versammlungsgesetz (NVersG) beispielsweise wurde erst vor kurzem, nämlich mit Wirkung zum 1. Februar 2011, reformiert und ist bereits durch eine Verfassungsbeschwerde gerichtlich angefochten worden. Obgleich viele neue Passagen in der Verfassungsbeschwerde kritisch beleuchtet werden, gehört §11 nicht zu diesen Passagen, er blieb unverändert. Dies ist wichtig hinsichtlich der momentanen neuen Rechtssprechung zum Thema Zivilpolizisten bei Demonstrationen.

Der angesprochene §11 regelt die Anwesenheit der Polizei bei Versammlungen unter freiem Himmel und lautet wie folgt:

§ 11 Anwesenheitsrecht der Polizei Die Polizei kann bei Versammlungen unter freiem Himmel anwesend sein, wenn dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach diesem Gesetz erforderlich ist. Nach Satz 1 anwesende Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte haben sich der Leiterin oder dem Leiter zu erkennen zu geben.

Das Gesetz behandelt hier uniformierte und nicht uniformierte Polizisten gleich und nimmt beide gleichermaßen in die Pflicht, sich beim Leiter oder der Leiterin der Versammlung zu erkennen zu geben. Es kann sich hier zwar um einen "redaktionellen Fehler" handeln (also um etwas, was der Gesetzgeber so nicht intendiert hat bzw. durch ein fehlendes Wort wie "uniformierte" fälschlich regelte), doch da derzeit der obige Wortlaut des Gesetzes gilt, ist dem Folge zu leisten. Es steht interessierten Personen oder Institutionen frei, enweder bereits vor Beschlussfassung des Gesetzes oder aber danach gegen missverständliche bis falsche Formulierungen auf den üblichen Wegen vorzugehen und somit eine Änderung anzustreben. Ein solcher Vorstoß durch die niedersächsische Polizei ist jedoch bisher nicht erfolgt, so dass entweder die Polizei den Gesetzestext nicht kennt, nicht hinreichend beachtet oder aber nicht allzu genau auf die Formulierungen achtete. Eine andere Alternative wäre die Möglichkeit, dass die Polizei einfach den Gesetzestext in ihrem eigenen Interesse interpretiert und ein "fehlendes Wort" sozusagen per Autovervollständigung einsetzt, um das Gesetz so zu lesen, wie es ihrer Meinung nach sein soll.

Der Wortlaut interessiert nicht

Anders ist es kaum zu erklären, dass der Polizeisprecher das Urteil des Verwaltungsgerichtes Göttingen so kommentiert, dass das Gesetz "redaktionelle Fehler" habe und "zu eng formuliert" sei. Das Verwaltungsgericht hatte nämlich den Einsatz von Zivilpolizisten bei Versammlungen unter freiem Himmel zu bewerten und sah es als gegeben an, dass Zivilpolizisten, die sich nicht der Versammlungsleitung zu erkennen geben, dem Gesetz zuwiderhandeln. Es sei im Interesse des Gesetzgebers gewesen zu regeln, dass Versammlungen unter freiem Himmel (bzw. das Recht dazu, welches im Grundgesetz verankert ist) zu schützen. Es sei für Demonstrierende oder Teilnehmer von Kundgebungen [...] wichtig, dass sie agieren könnten, ohne

heimlich

beobachtet zu werden.

Der Einwand des Prozessvertreters Matthias Scholze von der Polizeidirektion Göttingen, Zivilpolizisten sollten ja in der "Szene agieren", ist irreführend. Hier geht es nicht um Zivilfahnder oder um V-Personen, sondern um die während der Demonstration zum Schutz eingesetzten Polizisten. Wieso hier "in der Szene agiert" werden muss ist nicht ersichtlich. Die weiteren Einwände, die die bereits dargestellten Kritikpunkte der Polizei am Gesetz wiedergeben, zeigen ein Selbstverständnis, das seinesgleichen sucht.

Fast ist man dem Prozessvertreter dankbar, dass er auf eine solch gleichermaßen naive wie unverfrorene Weise argumentiert, zeigt er doch die Denkweise mancher Institutionen (und gerade auch der Polizei) auf, deren Mitarbeiter auf Bitten nach der Dienstnummer oder anderen Daten häufig nur mit einem süffisanten" nö" reagieren. In Bezug auf die Öffentlichkeitswirkung ist dieses Verhalten jedenfalls desaströs - es zeugt von mangelnder Kritikfähigkeit und einem schizophrenen Denken bei der Göttinger Polizei, die zwar (wie jede Sicherheitsbehörde) auf die Einhaltung der Gesetze pocht und diese auch durchsetzt, aber für sich selbst ganz eigene Normen schafft, indem sie bestehende als "redaktionell fehlerhaft" ansieht und meint, sich nicht daran halten zu müssen.