Schrittmacher für das Gedächtnis

Ein Querdenker unter den Neurowissenschaftlern will enträtselt haben, wie das menschliche Gehirn Langzeiterinnerungen formt. Ein Implantat, das diesen Code nutzt, soll Menschen mit Gedächtnisproblemen helfen.

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Von
  • Jon Cohen

Ein Querdenker unter den Neurowissenschaftlern will enträtselt haben, wie das menschliche Gehirn Langzeiterinnerungen formt. Ein Implantat, das diesen Code nutzt, soll Menschen mit Gedächtnisproblemen helfen.

Theodore Berger träumt von einem Tag in nicht allzu ferner Zukunft, an dem sich Patienten mit Gedächtnisverlust mithilfe eines elektronischen Implantats wieder erinnern können. Er will denjenigen Menschen helfen, deren Gehirn durch Krankheiten wie Alzheimer, Schlaganfälle oder Verletzungen so schwer beschädigt ist, dass es keine Langzeiterinnerungen mehr bilden kann. An dieser verwegenen Idee forscht der Biomedizin-Ingenieur und Neurowissenschaftler von der University of Southern California (USC) in Los Angeles seit mehr als 20 Jahren.

Berger setzt dafür auf Siliziumchips, die ins Gehirn eingepflanzt werden: Sie überbrücken die ausgefallenen Nervenzell-Schaltkreise, indem sie die Signalverarbeitung gesunder Neuronen imitieren. Die Chips sollen also jene Gedächtnisfunktionen wiederherstellen, die es ermöglichen, dass wir länger als eine Minute unser Wissen speichern können.

Für die meisten seiner Kollegen sind Bergers Arbeiten allerdings so weit vom neurowissenschaftlichen Konsens entfernt, dass sie ihn schlicht für etwas verrückt halten. Das ficht den Mann mit der grauen Mähne allerdings nicht an. "Man sagt mir schon lange, dass ich spinne", erzählt er lachend. Doch mit dem Erfolg der jüngsten Tierexperimente, die seine Forschungsgruppe mit einigen Kooperationspartnern – Sam Deadwyler vom Wake Forest Baptist Medical Center in North Carolina und Greg Gerhardt von der University of Kentucky – durchgeführt hat, ist Berger gerade dabei, das Etikett des Verschrobenen abzustreifen. Mehr und mehr Experten gilt er inzwischen als visionärer Pionier.

Ein Test der neuronalen Prothesen an Menschen steht bei Berger und seinen Forschungspartnern zwar noch aus. Ihre Tierexperimente mit Ratten und Affen haben aber bereits gezeigt, dass der Chip – der derzeit noch extern über Elektroden an Ratten- und Affengehirne angeschlossen wird – Informationen genau wie echte Nervenzellen verarbeiten kann.

Ein Gedächtnisimplantat mag wie ferne Zukunftsmusik klingen, doch für Berger zeigen aktuelle Erfolge in der Neuroprothetik, dass dieses Gebiet schon ziemlich weit ist. Cochlea-Implantate lassen mehr als 200000 taube Menschen hören, indem sie Töne in elektrische Signale verwandeln und zum Hörnerv senden. Zudem konnten in ersten Versuchen gelähmte Menschen über implantierte Hirnelektroden mit ihren Gedanken Roboterarme bewegen. Und schließlich ließen Forscher mit künstlichen Netzhäuten blinde Patienten teilweise wieder sehen (siehe Kasten Seite 31). Gleichwohl bleibt die Wiederherstellung kognitiver Funktionen im Gehirn weit komplizierter, als all diese Ergebnisse zeigen. So hat Berger den Großteil der letzten 35 Jahre damit verbracht, das Verhalten der Nervenzellen im Hippocampus zu verstehen. Dieser Teil des Gehirns ist an der Erinnerungsbildung beteiligt.

"Er wandelt Kurzzeiterinnerungen in das Langzeitgedächtnis um", erläutert Berger. Völlig unklar war allerdings, wie der Hippocampus diese komplizierte Aufgabe vollbringt. Bis jetzt. Denn Berger ist es gelungen, den Mechanismus zu entschlüsseln und ihn mathematisch nachzubilden.

"Eine Erinnerung ist eine Reihe von elektrischen Impulsen, die von einer bestimmten Abfolge von Nervenzellen erzeugt wird", erklärt Berger. Diese Impulse, auch Aktionspotenziale genannt, sind vorübergehende Abweichungen vom Ruhestadium der Nervenzellen und werden in Mikrovolt gemessen. "Man kann zum Beispiel genau die Kette von 2147 Nervenzellen finden, die Teil einer bestimmten Erinnerung sind. Sie erzeugen ein bestimmtes Impulsmuster."

Diese Sicht des Gedächtnisses kratzt aber nur an der Oberfläche. Zu Bergers ständigem Verdruss haben viele Kollegen, die diesen mysteriösen Bereich des Gehirns erforschen, nie versucht, tiefer einzudringen. "Sie nehmen einen wichtigen Einfluss von außen und zählen dann Aktionspotenziale. Sie sagen: ,Die Aktivität ist von 1 auf 200 gestiegen.' Na und? Codiert die Aktivität etwas? Bringt sie die nächste Nervenzelle dazu, etwas anders zu machen? Das ist es, was wir eigentlich tun sollten: Dinge erklären und nicht einfach nur Dinge beschreiben."

Berger nimmt einen Markierstift und füllt eine weiße Tafel von oben bis unten mit Kreisen, die Nervenzellen darstellen. Neben jede von ihnen zeichnet er eine horizontale gezackte Linie mit einem individuellen Muster von Kurvenausschlägen. "Das sind Sie in meinem Gehirn", erklärt er. "Mein Hippocampus hat bereits ein Langzeitgedächtnis von Ihnen angelegt. Ich werde mich bis nächste Woche an Sie erinnern. Aber wie unterscheide ich Sie von einer anderen Person?" Angenommen, es gibt 500000 Nervenzellen im Hippocampus, die einen Menschen repräsentieren, und es gibt alle möglichen Dinge, die jede Zelle codiert – etwa wie seine Nase im Verhältnis zu den Augenbrauen ist. All das verschlüsseln die Zellen mit verschiedenen Mustern."

Erste Erfolge auf dem Gebiet der Gedächtnis-Entschlüsselung gelangen Berger bereits während seiner Doktorarbeit an der Harvard University. Sein Betreuer Richard Thompson konditionierte Hasen darauf zu blinzeln, wenn sie einen Ton hörten und einen Luftstoß am Auge spürten. Er wollte feststellen, wo im Gehirn der Tiere die neue Erinnerung gespeichert wird. Um die richtige Stelle zu finden, überwachten die beiden Forscher die elektrische Gehirnaktivität einzelner Nervenzellen im Hippocampus mit Elektroden. Sie dokumentierten die Stärke und das zeitliche Muster der elektrischen Veränderungen, die sich beim Lernprozess zeigten – während also die Erinnerung entstand. Das brachte Berger zu der Frage, die ihn bis heute beschäftigt: Wenn eine Nervenzelle zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ein Signal abfeuert, wie genau reagieren die benachbarten Nervenzellen darauf? Die Antwort sollte den Code offenbaren, mit dem Nervenzellen das Langzeitgedächtnis bilden.

Ihn zu entschlüsseln sollte sich allerdings als extrem kom-plex erweisen. Einen wichtigen Hinweis fand Berger Ende der achtziger Jahre, als er an der University of Pittsburgh mit Robert Sclabassi das neuronale Netzwerk im Hippocampus von Tieren erforschte. Wenn sie den Hippocampus von Hasen elektrisch stimulierten (Input) und die Bewegung der Signale durch verschiedene Gruppen von Nervenzellen (Output) aufzeichneten, zeigte sich, dass die Beziehung nicht linear war. "Die Signale überlagern einander, einige ankommende Impulse werden unterdrückt, andere verstärkt."

Anfang der neunziger Jahre machte sich Berger an der USC mit dem Biomedizin-Ingenieur Vasilis Marmarelis daran, Rechnerchips zu entwickeln, die diese Form der Signalverarbeitung übernehmen. "Mir wurde klar, dass wir – wenn wir dies in ausreichenden Stückzahlen zum Laufen bringen – einen Teil des Gehirns simulieren können", sagt er. "Warum sie dann nicht auch an ein Gehirn anschließen? Ich fing an, ernsthaft über Prothesen nachzudenken, lange bevor dies jemand überhaupt in Betracht zog."

Zuerst testeten Berger und Marmarelis die Chips an Hippocampus-Scheiben von Ratten. Die Forscher sandten zufällig gewählte Impulse in das noch lebende Gewebe und zeichneten die Signale an verschiedenen Stellen auf, um zu beobachten, wie sie sich unterwegs verändert haben. Daraus leiteten sie dann die mathematischen Gleichungen ab und programmierten sie in die Computerchips ein.

Als Nächstes wollten die Forscher herausfinden, ob der Chip als Prothese für eine beschädigte Hippocampus-Region dienen könnte. Sie simulierten die Verletzung in toten Ratten, indem sie einen zentralen Teil einer herauspräparierten Hippocampus-Scheibe überbrückten: Sie platzierten Elektroden und leiteten die ankommenden elektrischen Signale an den Chip in einen externen Mikrocomputer um. Dieser übernahm die Signaltransformation. Weitere Elektroden schickten die Ergebnisse zurück an eine andere Stelle in der Rattenhirnscheibe.

Dann wagten die beiden Forscher den Versuch mit lebenden Ratten. Sie trainierten die Tiere darauf, für Futter einen von zwei Hebeln zu drücken. Dabei zeichneten die Forscher die Impulsfolge im Hippocampus der Tiere auf, wenn diese den richtigen Hebel wählten und lernten, sich langfristig an ihn zu erinnern. Auch aus diesen Daten extrahierte Bergers Team die Regeln für die Signaltransformation. Sie zeichneten zudem die Signale auf, von denen sie annahmen, dass sie die Erinnerung selbst repräsentierten.

Anschließend erbrachten die Forscher den Nachweis, dass ihr Gerät tatsächlich die richtigen Langzeiterinnerungssignale erzeugen kann, wenn es mit den ursprünglichen Input-Signalen gefüttert wird. Diese hatten sie zu Beginn im Rattenhirn aufgezeichnet. Der ultimative Beweis, dass ihr Code richtig war, gelang ihnen mit folgendem Experiment: Verabreichten sie den Ratten Medikamente, die das Langzeitgedächtnis blockieren, vergaßen die Tiere, welcher Hebel das Futter brachte. Wurden ihre Gehirne aber mit der richtigen Impulsfolge angeregt, wählten die Tiere wieder den passenden Hebel.

Im vorigen Jahr veröffentlichte Bergers Team Ergebnisse von Experimenten mit Menschenaffen, die zeigen, dass sich auch die Erinnerungsfähigkeit verbessern lässt. Die Forscher hatten dafür Signale im sogenannten präfrontalen Kortex ausgelesen, jenem Teil der Großhirnrinde, der die im Hippocampus erzeugten Erinnerungen aufruft. In diesem Fall waren es Signale, die Erinnerungen an zuvor gezeigte Bilder entsprachen. Anschließend gaben sie den Affen Kokain, das diesen Teil des Gehirns lahmlegt. Mit den implantierten Elektroden schickten die Forscher dann den korrekten Code an den Präfrontal-Kortex der Tiere. So konnten sie deren Erinnerungsleistung bei der Identifikation der Bilder signifikant steigern.

Innerhalb der nächsten zwei Jahre hoffen Berger und Kollegen, den Tieren eine echte Gedächtnisprothese einpflanzen zu können. Sie wollen außerdem unter Beweis stellen, dass ihre Chips Langzeiterinnerungen in unterschiedlichen Verhaltenssituationen formen können.

Denn es könnte sein, dass die Forscher nur die Codes für die spezifischen Aufgaben ihrer Experimente berechnet haben. Was aber, wenn das der Fall ist? Wenn die Signale nicht verallgemeinert werden können und verschiedene Eingaben unterschiedlich verarbeitet werden? Mit anderen Worten: Vielleicht haben sie nicht den Code geknackt, sondern nur ein paar einfache Botschaften entschlüsselt. Berger räumt ein, dass seine Elektronikbausteine Langzeiterinnerungen möglicherweise nur für eine begrenzte Anzahl von Situationen schaffen können. Er weist aber darauf hin, dass die Bauweise des Gehirns die Vielfalt der möglichen Codes einschränkt: In der Praxis dürfte es nicht so viele Arten der Signalumwandlung geben.

Berger und seine Mitarbeiter planen bereits erste Untersuchungen an Menschen und hoffen, sich einer bereits laufenden Studie anschließen zu können. Ärzte seiner Universität testen derzeit Elektroden, die an beiden Seiten des Hippocampus implantiert werden und bei Patienten mit massiver Epilepsie Anfälle verhindern sollen. Sollte das Projekt wie geplant vorankommen, könnte Berger in den Gehirnen der Patienten Erinnerungscodes untersuchen.

"Ich hätte nie geglaubt, dass ich dies einmal an Menschen testen würde – und jetzt geht es nur noch um das Wann und Wie." Berger glaubt, "dass wir ein Modell finden, dass für viele Beeinträchtigungen funktioniert, vielleicht sogar für die meisten". Und selbst wenn nicht: "Das Ziel ist, die Lebensqualität für jemanden mit schwerwiegendem Gedächtnisverlust zu verbessern: Wenn ich ihm die Fähigkeit geben kann, für die Hälfte der Bedingungen, unter denen die meisten Menschen leben, neue Langzeiterinnerung zu bilden – dann werde ich verdammt glücklich sein und die meisten Patienten ebenso." (bsc)