Psychisch kranke ALG II-Bezieher: Jobcenter sehen sich überfordert

Außer Kontrolle

Psychische Erkrankungen sind bei ALG II-Empfängern nicht selten. Doch das Verständnis hierfür ist (nicht nur) bei den Jobcentern gering.

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Als sich im Jahr 2009 der Torwart Robert Enke das Leben nahm, gab es kurzfristig eine verstärkte Debatte über das Thema Depressionen. Wie Medien es so schön formulieren: Das Thema Depressionen hatte ein Gesicht bekommen. Dies war auch deshalb für viele Betroffene ein Silberstreif am Horizont, weil psychische Erkrankungen, u.a. eben die Depression, noch immer eher auf Unverständnis stoßen. Für das Umfeld sind Depressionen oft nichts anderes als Antriebslosigkeit, Faulheit oder simple Traurigkeit, Unverständnis und Gereiztheit dominieren den Umgang mit Erkrankten. "Hilfen" beschränken sich oft auf Kalenderweisheiten oder aber saloppe Aufforderungen, sich "zusammenzureißen", "mal den Hintern hochzukriegen", "nicht rumzujammern" oder "sich nicht so anzustellen".

Ähnliche Situationen ergeben sich bei Angstzuständen, die auch eher als eine Art "faule Flucht" oder "Ausrede" angesehen werden, wobei das Leiden der Betroffenen zunimmt da sie zusätzlich zu der ohnehin beeinträchtigten Lebenssituation noch auf Unverständnis bis hin zu Spott oder Wut stoßen. Auch Ärzte sind oft mit der Diagnose überfordert, verschreiben vorschnell Medikamente oder üben sich ebenfalls in Kalenderweisheiten oder esoterisch anmutenden Lebensberatungssätzen wie "Aber wenn Sie erst einmal die Augen für die Sonne öffnen, dann wird es Ihnen auch besser gehen."

Es ist daher wenig verwunderlich, dass auch die Mitarbeiter in Jobcentern mit psychischen Erkrankungen überfordert sind. Ein Problem ergibt sich dadurch, dass viele ALG II-Empfänger an psychischen Erkrankungen leiden, welche durch den Druck, der auf die Leistungsempfänger ausgeübt wird, nicht wirklich abnehmen. Bei etwa einem Drittel der ALG II-Bezieher, so besagt eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und der Uni Halle-Wittenberg, liegen psychische Erkrankungen vor.

Probleme ergeben sich zwangsläufig, wenn die durch die Erkrankung bedingte Antriebslosigkeit als Weigerung der Mitwirkung angesehen und/oder sogar sanktioniert wird, doch schon die Art und Weise, wie mancher ALG II-Empfänger vom Jobcenter behandelt wird, führt dazu, dass sich die Symptome verschlimmern. Bedingt dadurch, dass Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen bei ALG II-Empfängern von manchen Ärzten nicht einmal ausgestellt werden, da angenommen wird, dass es ja bei einem fehlenden Arbeitgeber auch keine Notwendigkeit für eine solche Krankschreibung gibt, ergibt sich beim Besuch im Jobcenter dann die fatale Situation, dass eine Erkrankung vorliegt, die von allen Seiten nicht ernstgenommen wird. Statt Hilfsangeboten erwarten Zurechtweisung und/oder Sanktionen den Erkrankten, was das Gefühl, versagt zu haben, das oft vorherrscht, noch verstärkt

Die Tatsache, dass gefordert wird, Jobcentermitarbeiter sollten sich mehr auf psychisch kranke Menschen einstellen, ist erfreulich, wenn jedoch vorgeschlagen wird, es wäre beispielsweise bereits hilfreich, eine adäquate Sprache/Anrede zu wählen, dann zeigt dies offen, welche Probleme und Defizite derzeit bestehen, sollte doch eine solche Anrede/Sprache selbstverständlich sein. Und auch der Hinweis, dass die Sanktionen bei psychisch kranken Menschen besser überlegt werden sollten, hilft wenig, denn es stellt sich auch die Frage, ob den Mitarbeitern der Jobcenter überhaupt auferlegt werden sollte, psychische Störungen zu erkennen, und es nicht sinnvoller wäre, zwar den Betroffenen Hilfe anzubieten, sie jedoch nicht wie komplett erwerbsfähige Menschen zu behandeln. Hier wären dann insbesondere auch Instrumente gefragt, die es leichter machten, die Betroffenen mit Hilfeangeboten zu unterstützen, so erwünscht.

Beim Thema Sanktionen wäre es sinnvoller zu überlegen, ob und in welcher Form diese wirklich notwendig sind angesichts der Vielzahl von Erwerbslosen bzw. aufstockenden ALG II-Beziehern und der Zahl der offenen Stellen, die dem gegenübersteht. Doch das Thema Sanktionen, so umstritten wie es seit Beginn der Agenda 2010 auch ist, ist derzeit weniger präsent. Auch die Petition, die noch bis zum 18.12.2013 mitgezeichnet werden kann, hat bisher lediglich ca 30.000 Unterstützer gefunden. Dies mag kein Grund zur Resignation sein, kann das erwünschte Quorum von 50.000 ja noch erreicht werden, doch angesichts der langjährigen Proteste gerade auch gegen die Sanktionen wäre anzunehmen gewesen, dass das Quorum schnell erreicht wird. Angesichts der Vielzahl der Betroffenen ist der bisherige "Erfolg" der Petition eher zwiespältig zu betrachten.