Mehr Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte

Die oft tödlichen Folgen bundesdeutscher Flüchtlingspolitik und der schwierige Widerstand dagegen

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Ein mauretanischer Flüchtling vergiftet sich in der Asylunterkunft Ludwigslust mit Tabletten. Im Oberallgäu verliert eine Flüchtlingsfrau ihr Kind, weil der Krankenwagen zu spät gerufen wurde. Ein 50jähriger Flüchtling aus Vietnam tötet sich selbst.

Das sind drei Beispiele für menschliche Tragödien, die im letzten Jahr in bundesdeutschen Flüchtlingsheimen geschahen. Sie haben es höchstens auf die hinteren Seiten der Zeitungen geschafft, wenn überhaupt. Dass sie jetzt noch einmal bekannt geworden sind, ist der Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen" zu verdanken, die von der Antirassistischen Initiative Berlin (ARI) jährlich aktualisiert herausgegeben wird.

Die 21te Fassung mit den Zahlen vom letzten Jahr ist gerade erschienen. Sie ist, wie jedes Jahr, die Frucht von viel Recherchearbeit unentgeltlich arbeitender Menschen, die die Fälle sichten, Informationen einholen, gegenrecherchieren. Dann erst werden die Meldungen in die Dokumentation aufgenommen. Daher hat sie seit Langem den guten Ruf, dass man sich auf die Informationen berufen kann. Jedes Jahr liefert die Lektüre einen Einblick in das Lagersystem, in dem Flüchtlinge noch immer zu leben gezwungen sind.

So lässt die Meldung erschrecken, dass am 25. April letzten Jahres in Friedersdorf der 33jährige Cosmo Saizon aus Benin stirbt, weil er zu spät ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Dass dies kein Einzelfall ist, zeigt eine andere Meldung: Im Dezember letzten Jahres wurde Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung gegen die erhoben, die einem 18 Monate altem Kleinkind im Erstaufnahmelager Zirndorf medizinische Hilfe verweigerten. Nachdem es die Eltern per Anhalter und zu Fuß in ein Krankenhaus brachten, fiel es in ein Koma und wird bleibende Schäden davon tragen, weil die Behandlung zu spät begonnen hat.

Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte gestiegen

In der Dokumentation werden auch die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte aufgelistet. Waren es im Zeitraum von 2008 bis 2011 14 Angriffe, stieg die Zahl 2012 auf 17 und im letzten Jahr auf 24 Angriffe. Damit drücken sich die oft von extrem rechten Kräften geschürten Kampagnen gegen Flüchtlingsunterkünfte auch in zunehmender Gewalt aus. Dabei sind in der Dokumentation Hakenkreuzschmierereien und Angriffe auf noch im Bau befindliche, aber noch nicht bezogene Flüchtlingsunterkünfte nicht mit aufgelistet.

Das unterscheidet sie von der vom Bundeskriminalamt erstellten Statistik überAngriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Ein Mitarbeiter der ARI bescheinigt der BKA-Arbeitsgruppe in diesem Fall eine gestiegene Sensibilität für rechte Gewalt. Es sei keine Tendenz zu erkennen, die rechte Gewalt herunter zu rechnen. So würden in der BKA-Statistik auch Böllerwürfe oder ein Ketchup-Attentat auf eine Flüchtlingsunterkunft zur rechten Gewalt gezählt.

In den vergangenen Jahren hatten vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen gegen Rechts polizeiliche Stellen kritisiert, weil sie Delikte oft auch dann nicht als rechte Gewalt klassifizieren wollten, wenn die Täter zweifellos Neonazis waren. Im Zuge der NSU-Debatte werden deswegen rückwirkend noch einmal Delikte der letzten Jahre daraufhin überprüft, ob es einen rechten Hintergrund gibt.

Der Mitarbeiter der ARI sieht die Sensibilität des BKA im Falle der Angriffe auf Flüchtlingsheime gewachsen - sowohl vor dem Hintergrund der NSU-Enttarnung als angesichts auch der Serie rassistischer Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in den 90er Jahren. Damals wurden Polizei und staatliche Stellen oft heftig dafür kritisiert, dass sie zu spät eingegriffen hatten.

Allerdings veröffentlichen zivilgesellschaftliche Gruppen aktuell auch eigene Zahlen von Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte, die höher liegen als die Angaben des BKA .

Flüchtlingswiderstand und die Grenzen

Positiv gewürdigt wird in der ARI-Dokumentation der Widerstand von Flüchtlingen in der gesamten Republik, der im Herbst 2012 begann und das ganze letzte Jahr über mit hoher Intensität anhielt:

"Trotz der repressiven Lebensbedingungen gelang der Aufbau von Flüchtlingsorganisationen und bundesweiten Vernetzungen.“

Wie verzweifelt die Lebensbedingungen für viele der Flüchtlinge sind, zeigt sich daran, dass sie sich im letzten Jahr 121 Mal bei Hunger- und Durststreiks in Lebensgefahr befanden und in Krankenhäuser eingeliefert werden mussten. Oft setzten die Protestierenden, nachdem ihnen im Krankenhaus die lebenserhaltende Injektion verabreicht worden war, ihren Hunger- und Durststreik fort. Das führte dazu, dass sich manche Flüchtlinge mehrmals in einer lebensbedrohlichen Situation befanden. Es sind unhaltbare Lebensumstände, die viele Flüchtlinge dazu bringen, ihren Körper als letzte Waffe einzusetzen.

Natürlich müsse es eigentlich selbstverständlich klar sein, dass unterschiedliche Flüchtlingsgruppen verschiedene Interessen haben. Beim in der letzten Woche von einem Teil der Flüchtlinge freiwillig geräumten Protestcamp am Oranienplatz gelang es nicht, eine Regelung zu finden, die allen an dem Protest Beteiligten entgegenkam.

Das führte dazu, dass der Teil der Flüchtlingsgruppe, die das Camp gegen eine temporäre Unterkunft tauschen wollte, dann auch die Zelte der Geflüchteten abriss, die das Camp nicht aufgeben wollten, weil es für sie vor allem ein Ort war, an dem sie ihren Protest gegen das deutsche Flüchtlingsregime deutlich machen wollten.

Die Gräben, die sich am Tag der Räumung zwischen den beiden Flüchtlingsgruppen, die am Oranienplatz bleiben oder ihn verlassen wollten, aber auch zwischen Flüchtlingen und Unterstützern aufgetan haben, dürften so schnell nicht zu überbrücken sein.

Das zeigte sich am Dienstagabend während einer längeren Diskussionsveranstaltung , die der Bildungsverein Helle Panke zur Flüchtlingspolitik in Kreuzberg organisiert hatte. Die Veranstaltung entwickelte sich hauptsächlich zu einem verbalen Schlagabtausch zwischen den Flüchtlingen, die ihren Protest fortsetzen wollen und der grünen Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg.

Dabei ging ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundesamtes etwas unter, das eine rechtliche Handhabe aufzeigt, wie allen Flüchtlingsaktivisten ein Aufenthaltsstatusaus humanitären Gründen nach § 23 Aufenthaltsgesetz gewährt werden könnte.