Protest im Krisen-Europa

Eine Reihe von Organisationen testen den "dezentralen Widerstand" in verschiedenen Städten. In Brüssel antwortet man mit Wasserwerfern und Festnahmen

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240 Menschen wurden am vergangenen Donnerstag bei friedlichen Protesten festgenommen. Wer jetzt denkt, dies sei in der Türkei oder in Russland geschehen, irrt sich. Die Massenrepression trug sich in Brüssel zu, einem der politischen Zentren der Europäischen Union, deren demokratische Werte ja angeblich so vorbildlich sein sollen.

Zumindest scheint es die Meinung des Taz-Journalisten Jens Feddersen zu sein. In einer Polemik gegen einen Wahlaufruf europäischer Intellektueller für den Spitzenkandidaten der europäischen Linken Alexis Tsipras schreibt Feddersen:

"Das Europa der EU hat, wie man beim russisch-ukrainischen Krieg erkennen kann, die Rolle einer Friedensstifterin ausgefüllt, und das tut sie seit ihrer Gründung. 'Brüssel' - als Chiffre - hat kein Paradies begründet, sondern eine nicht perfekt funktionierende politische Union. Mit Macken, klar. Diese sind abstellbar. Kein Wunder, dass Millionen Menschen schon ihrer Bürgerrechte wegen gern zur EU gehören wollen. Sie sehen hier Zukunft, nicht Krise.“

Dass viele Menschen, die vor Krieg, Not und Verfolgung in die Festung EU gelangen wollen, im Mittelmeer ertrinken, ist Feddersen genau so wenig ein Wort wert, wie die Selbstmordrate in Griechenland, wo das Leben vieler durch die Folgen der Krise aus dem Takt gekommen ist, die Feddersen mit der EU nicht in Verbindung bringen will.

Wasserwerfer und Massenfestnahmen in der Hauptstadt der EU

Die Massenfestnahmen in Brüssel dürfte Feddersen als eine der Macken abtun, die es in der EU noch gibt. Die Aktivisten protestierten in Brüssel gegen den "European Business Summit", einem Lobbytreffen der Wirtschaft. Zu den Protesten hat die Allianz D19-20 aufgerufen, ein Zusammenschluss von Gewerkschaften, Umwelt- und Bauernorganisationen.

"Meinungsfreiheit fehl am Platz?", fragte das globalisierungskritische Bündnis Attac nach dem Auftritt der europäischen Staatsmacht in der EU-Hauptstadt. Die Brüsseler Proteste sind Teil der dezentralen Blockupy-Proteste, die vom 15. bis 25.Mai in zahlreichen europäischen Städten deutlich machen wollen, dass die Krise noch längst nicht vorbei ist und dass nicht alle Menschen ihre Folgen negieren oder als unvermeidliche Macken abtun.

Mit Repression und Massenfestnahmen ist man vertraut. Im letzten Jahr sorgte der Polizeikessel in Frankfurt/Main für Aufsehen. Nun zeigt sich, dass dafür nicht nur hessische CDU-Politiker verantwortlich sind.

Widerstand im Alltag

Mit dem dezentralen Konzept reagiert das Protestbündnis auch auf die Tatsache, dass die Krisenpolitik sich heute etabliert hat. So schreibt eine der Berliner Protestorganisatorinnen:

"Die Zeiten der radikalen Umwälzung von oben, die sich in der Gründung der Troika und der Abschaffung der nationalen Souveränität Griechenlands und Italiens sowie in rigorosen Spardiktaten und Privatisierungswellen niederschlug, sind vorbei. Mit dem Europäischen Fiskalpakt, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und weiteren Strukturen zur Abstimmung der Wirtschaftspolitik (sogenanntes 'Economic Governance') konnten neoliberale Krisenmanager wie Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso ihre Schockstrategie etablieren.“

Allerdings knüpft das Bündnis mit dem dezentralen Protesttagen auch an das Konzept an, den Widerstand im Alltag zu unterstützen. Bereits in den letzten zwei Jahren wurden Proteste gegen Zwangsräumungen und die Unterstützung von Streiks im Rahmen der Blockupy-Bündnisse organsiert.

Bei den aktuellen Protesttagen wurde im Rahmen der Proteste in Frankfurt/Main eine Wahlveranstaltung der rechtskonservativen Alternative für Deutschland gestört. In Hamburg soll die Baustelle des Millionengrabs Elbphilharmonie besetzt werden.

In Berlin wird der Protest von Geflüchteten unterstützt, die am 17. Mai ihren Protestmarsch nach Brüssel starten. Ort und Datum sind gut gewählt. Wenige Tage vor der Europawahl fordern sie die europäischen Werte ein, die in Wahlveranstaltungen genau so viel strapaziert werden, wie in Kommentaren von Taz und anderen Medien.