Google Glass fürs Krankenhaus

In einem Pilotprojekt testen Ärzte am Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston, wie Datenbrillen den Klinikalltag verbessern könnten.

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Von
  • Susan Young Rojahn

In einem Pilotprojekt testen Ärzte am Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston, wie Datenbrillen den Klinikalltag verbessern könnten.

Während nicht wenige Zeitgenossen Google Glass hässlich oder gar überflüssig finden, entdecken andere Anwendungen, die ihnen die Arbeit leichter machen. Steve Horng zum Beispiel: Der Arzt leitet am Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston ein Pilotprojekt, das die Art und Weise verändern könnte, wie Mediziner auf Patientenakten zugreifen. Gerade der Notaufnahme, in der Horng arbeitet, könne jede noch so geringfügige Information helfen, sagt der Arzt. „Diese Information eine Minute früher zu bekommen, kann ein Leben retten.“

Das Bostoner Projekt ist nur eines von vielen, in denen derzeit Datendisplays vor dem Gesicht getestet werden. Der Vorteil liegt nicht nur in der schnell verfügbaren Information – mit Google Glass auf der Nase bleiben beide Hände frei, die Arbeit kann nahtlos weitergehen. Neben Googles Datenbrille bieten auch andere Hersteller Geräte an, die Informationen ins Sichtfeld einblenden. Epson hat eine Brille entwickelt, mit deren Hilfe Krankenpfleger Venen unter der Haut erkennen können, bevor sie eine Spritze setzen.

Vier Testgeräde stehen Horng und seinen Kollegen zur Verfügung. Hat eine Krankenpflegerin ihre Schicht begonnen und Glass aufgesetzt, kann sie die Akte eines Patienten über einen QR-Code neben der Tür zum Krankenzimmer aufrufen. Eine für das Projekt geschriebene App verbindet sich mit dem Netz der Klinik und blendet die Daten im Sichtfenster ein (siehe Bild).

Die im Bostoner Pilotprojekt verwendete App von Wearable Intelligence kann nur die wichtigsten Patientendaten auf einen Blick einblenden.

Zwar ist der Umfang der darstellbaren Daten noch begrenzt. Auch sind noch keine detaillierten Suchabfragen oder Dateneingaben möglich, dafür sind Sprachbefehle und Gestenerkennung noch nicht weit genug ausgearbeitet. Die wesentlichen Fakten seien aber für die Notfallmedizin schon hilfreich, sagt Horng.

Die App hat die Firma Wearable Intelligence aus San Francisco entwickelt. Ist die Anwendung aktiviert, werden alle Funktionen für soziale Netzwerke – etwa die Verbindung zu Google Plus – automatisch gekappt. Wearable Intelligence hat bereits andere Glass-Apps für industrielle Anwendungen programmiert, darunter ein Echtzeit-Informationssystem für Arbeiter in der Öl- und Erdgasindustrie.

Solche Spezialanwendungen scheinen gut anzukommen. Auf einer Google-Veranstaltung in Cambridge berichteten US-Ärzte kürzlich, wie sie Glass zu nutzen anfangen. Rafael Grossman, Chirurg aus Bangor im Bundesstaat Maine, war einer der ersten, die Glass während einer Operation einsetzten. Potenzial sieht er vor allem in der Ausbildung neuer Chirurgen, etwa über eingeblendete Lehrvideos.

Im Boston Projekt sind die Videofunktionen abgeschaltet. „Wir wollten alles vermeiden, was irgendwie dazu führen könnte, dass Patientendaten nach draußen gelangen“, sagt Steve Horng. „Bis wir eine solide Fallstudie als Grundlage haben, ist das Einspielen von Videos deaktiviert.“

Viele Mediziner halten das Gerät nicht für eine Schranke zwischen Arzt und Patient. Karandeep Singh, Nierenfacharzt am Brigham and Women’s Hospital in Boston, sieht im Gegenteil die Chance, dass sich das Zusammenspiel noch verbessert. „Die Einführung elektronischer Patientenakten hat die Beziehung zwischen Arzt und Patient bereits deutlich verändert“, sagt Singh. Viele Ärzte würden heute einen Blick in die Akte schon mit einer Visite gleichsetzen. So sei ein Teil der ärztlichen Kunst verloren gegangen. Mit Google Glass könnte diese Entwicklung wieder rückgängig gemacht werden, wenn die Akte direkt am Bett des Patienten aufgerufen werden kann, so Singh.

In der nächsten Version der im Bostoner Projekt verwendeten App sollen auch Sprachbefehle enthalten sein. Dafür werde man aber auf die Spracherkennung einer anderen Firma zurückgreifen, sagt Horng. „Die von Google ist nicht so robust, wie wir es gerne hätten.“

Auch sonst gibt es noch Einschränkungen. Verwendet man die App von Wearable Intelligence, liegt die Batterielaufzeit aufgrund der doch anspruchsvolleren Datenverarbeitung bei nur zwei Stunden. Für die übliche Acht-Stunden-Schicht im Krankenhaus genügt das nicht annähernd.

Einige Mediziner sehen Glass ähnlich skeptisch wie bislang weite Teile der Öffentlichkeit. Seien Notfallärzte grundsätzlich gegenüber Technik sehr aufgeschlossen, wie Horng sagt, würden andere Ärzt lieber beim traditionellen Klemmbrett bleiben, in dem sie Ausdrucke mit Patientendaten mit sich tragen. „Die werden Glass wohl nie nutzen“, glaubt Horng.

Auch das Display von Google Glass selbst könnte noch Innovation vertragen. „Von all den verfügbaren medizinischen Informationen ist nur ein kleiner Teil für den Arzt sichtbar, das Glass-Display hat einfach nicht genug Pixel“, sagt David Sontag, ein Informatiker der New York University, der mit Horng im Pilotprojekt zusammenarbeitet. Andererseits hätten Ärzte nicht so viel Zeit, alle Informationen der Reihe nach im Display aufzurufen. Hier seien neue Algorithmen gefragt, die einem Mediziner die richtigen Daten zur richtigen Zeit ins Sichtfeld einspielen. (nbo)