Die Woche: Linux verchromt

Googles Ankündigung, ein eigenes Betriebssystem auf Linux-Basis herauszubringen, mischte das Web richtig auf. Ob Chrome OS die Vorschusslorbeeren verdient oder dasselbe Schicksal wie Linux auf Netbooks erleiden wird, stellt sich erst 2010 heraus.

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Von
  • Andrea Müller

Als ich gestern früh mit dem obligatorischen Morgenkaffee bewaffnet, halbverschlafen an meinen Rechner tapste, traf mich fast der Schlag: Dutzende Tweets und über 800 Nachrichten im RSS-Reader – entweder ist Michael Jackson wieder auferstanden oder Apple hat noch ein neues iPhone aus dem Hut gezaubert. Aber weit gefehlt – was unzählige News-Sites, die Blogosphäre und das Twitter-Universum bewegt, ist Googles Ankündigung des neuen Betriebssystems Chrome OS. Ein waschechtes Web-OS, komplett "in the cloud", einfach, schnell und sicher und ab der zweiten Jahreshälfte 2010 auf Netbooks vorinstalliert. Es soll der ultimative Microsoft-Killer sein, MS und Linux müssen sich angeblich warm anziehen (wieso fehlt eigentlich Apple in der Aufzählung?) und Techcrunch verkündet gar, Google habe eine "verchromte Atombombe" auf MS geworfen.

Nimmt man dann den Auslöser des ganzen Hypes unter die Lupe, den Blog-Eintrag von Sundar Pichai, VP Product Management bei Google und Engineering Director Linus Upson, wirkt das ganze weit weniger aufregend. Denn es gibt bislang nur wenige Fakten: Google plant -- unabhängig von der Mobil-Plattform Android -- ein Betriebssystem auf Basis eines Linux-Kernels mit neuem Window-System, das im wesentlichen als Laufzeitumgebung für Googles Chrome-Browser dienen wird. Native Anwendungsprogramme soll es nicht geben, stattdessen sollen die Anwender mit Web-Applikationen in Chrome arbeiten: Mailen mit Google Mail, Office-Kram erledigen mit Google Text und Tabellen, News lesen mit Google Reader und natürlich surfen mit Google Chrome.

Googles Chrome OS soll zunächst auf Netbooks mit x86- und ARM-Prozessoren laufen. Ende diesen Jahres will Google erste Quelltexte veröffentlichen, die ersten Geräte mit vorinstalliertem Chrome OS sollen dann im zweiten Halbjahr 2010 in die Läden kommen. Als Partnerunternehmen hat Google unter anderem Acer, Asus, Hewlett-Packard und Lenovo gewonnen.

Das klingt erst mal nur nach einer weiteren maximal abgespeckten Linux-Distribution und wird den ein oder anderen sicher an Good OS (gOS) erinnern, eine auf Ubuntu basierende Distribution, die eng mit den Webanwendungen von Google verzahnt ist, bislang aber allenfalls als Randnotiz in den Medien auftauchte. Aber wenn zwei das gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe und natürlich kann Google mit seinem Namen und seiner Marktmacht mehr bewegen als eine unbekannte Firma aus Taiwan. Trotzdem frage ich mich, wie eine simple Ankündigung solche Massen an Vorschusslorbeeren einheimsen konnte, ohne dass auch nur jemand eine Zeichen Code des Systems geschweige denn eine lauffähige Installation gesehen hätte. Auch warum sonst durchaus kritische Naturen, denen sich allein bei der Erwähnung des Wortes Vorratsdatenspeicherung die Zehennägel aufrollen, jetzt scheinbar bedenkenlos bereit sind, ihre Daten einem gewinnorientierten amerikanischen Unternehmen anzuvertrauen, erschließt sich mir nicht. Noch dazu einer Firma, die in China den dortigen Machthabern unbequeme Suchergebnisse brav herausfiltert.

Die Versprechen des Ankündigungs-Postings hinterfragen ebenfalls nur wenige. Die Schwerpunkte bei der Entwicklung sollen auf Sicherheit, Schnelligkeit und einfache Bedienung liegen. Die Anwender seien es leid, sich mit der Konfiguration und dem Einbinden neuer Hardware herumzuschlagen. Dass dieses Ärgernis für den Nutzer bei Chrome OS der Vergangenheit angehört, setzt aber voraus, dass er sein System auch so nutzt, wie es sich die Marketing-Maschinerie rund um Netbooks gedacht hat: als reine Surf-Station.

Doch wie schon bei den ersten Linux-Netbooks werden die Anwender auch bei Chrome OS auf die abenteuerlichsten Ideen kommen – etwa einen Drucker oder einen DVB-T-Stick anzuschließen. Und wieso sollte es dem Anwender da anders ergehen, als mit einer x-beliebigen Linux-Distribution, wenn das Gerät nicht von Haus aus unterstützt wird? Diese Probleme werden spätestens dann auftauchen, wenn Chrome OS wie von Google geplant auch auf herkömmlichen Desktop-PCs installiert wird.

Wie bei den Linux-Netbooks hängt auch bei Chrome OS Erfolg oder Misserfolg davon ab, inwieweit Anwender bereit sind, mit einem für sie ungewohnten System zu arbeiten. Die Netbook-Hersteller wollten ihre Geräte als neue Geräteklasse etablieren, bei der sich die Nutzer auch auf andere Bedienkonzepte einlassen. Die Realität sah anders aus: Da konnte man die mobilen Minis zehnmal Netbook nennen, für den Käufer waren sie nichts anderes als billige Subnotebooks -- und die hatten gefälligst so zu funktionieren wie der heimische Desktop-PC. Vor genau diesem Akzeptanzproblem wird auch Chrome OS in einem Jahr stehen. Außerdem bleibt abzuwarten, ob ein System, das zu 100 Prozent auf Web-Applikationen setzt, alle Ansprüche der Nutzer erfüllen kann und ob die Anwender bereit sind, ihre Daten nicht mehr nur auf der lokalen Festplatte, sondern online zu speichern. (amu) (amu)