Wo bleibt der Linux-Desktop?

Trotz einiger spektakulärer Projekte, die Linux als Client-Betriebssystem einsetzen, dominiert Microsoft den Desktop mit erdrückender Übermacht. Warum fällt es Linux so schwer, außerhalb der Serverwelt Fuß zu fassen?

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Lesezeit: 16 Min.
Von
  • Chris Schläger
  • Dr. Oliver Diedrich
Inhaltsverzeichnis

Alljährlich zum Jahreswechsel vollzieht sich das gleiche Ritual: Experten resümieren das alte Jahr und versorgen uns mit einem Ausblick auf die heißen Themen des neuen Jahres. Dauerbrenner dabei ist das seit Jahren immer wieder prophezeite Jahr des Linux-Desktops. Mehrere Linux-Anbieter haben Desktop-Lösungen im Programm, und spektakuläre Projekte wie die dieses Jahr beginnende Migration von 14.000 Arbeitsplatztrechnern bei der Stadt München auf Linux zeigen, dass Linux durchaus Chancen auf dem Desktop hat.

Aber nachdem sich rund 97 Prozent der computernutzenden Weltbevölkerung bis heute nicht an die Prophezeiung halten, werden die Stimmen, die Linux auf dem Desktop kurz vor dem Durchbruch sehen, zunehmend leiser. Dabei sind die Ansprüche der meisten Computernutzer an den Desktop recht gering: Programme starten und Dateien öffnen, kopieren und löschen, mit der Maus, versteht sich. Alles weitere fällt streng genommen schon in den Verantwortungsbereich von Dienstprogrammen und Anwendungen.

Die schlichte Datei- und Applikationsverwaltung beherrschen die Linux-Desktops von KDE bis Gnome schon seit Jahren; heutzutage sind sie durchaus mit den Bedienoberflächen von Windows und Mac OS vergleichbar. Unterschiede sind eher geschmacklicher Art, als dass der Funktionsumfang große Lücken aufweisen würde. Und trotzdem bleiben die meisten Windows-Nutzer bei ihrem System, trotz der unbestreitbaren Anziehungskräfte Freiheit, Flexibilität und Sicherheit bei Linux.

Wer mit E-Mail, Browser und einem Office-Paket zufrieden ist, kann problemlos unter Linux glücklich werden. Mittlerweile gibt es sogar schon einige Fach- oder Spartenanwendungen. Zwei Jahre, nachdem Novell mit Ximian und Suse eine Portion Linux-Desktop-Know-How eingekauft hat, hat das Unternehmen jetzt erstmals die Anwender gefragt, welche Desktop-Programme ihnen unter Linux fehlen. Die ersten Ergebnisse der Umfrage sind nicht weiter verwunderlich, korrelieren sie doch recht gut mit den Software-Verkaufscharts der letzten Jahre - wenn man Firewalls und Antiviren-Software, für die unter Linux auf absehbare Zeit kein Bedarf besteht, beiseite lässt.

Interessant an dieser Umfrage ist etwas ganz anderes: Da beginnt einer der beiden großen Lieferanten von kommerziellen Linux-Distributionen, sich Gedanken zu machen, was der Markt eigentlich will. Jeder, der mit Produktentwicklungsprozessen vertraut ist, dürfte jetzt verstehen, warum auch dieses Jahr Linux noch weit weg vom Mainstream-Desktop ist: Bekanntlich steht die Produktplanung ja recht weit am Anfang der Produktentwicklung.

Ein gutes Gefühl für die Weite des Weges bekommt man allerdings erst, wenn man bedenkt, daß weder Novell noch Red Hat oder sonst einer der Linux-Distributoren die gefragten Programme selber schreiben wird. Die Top 10 der vermissten Anwendungen umfasst Programme wie Quickbooks, Autocad, Photoshop, itunes oder Dreamweaver, allesamt Produkte großer Windows- oder Mac-OS-Softwarehäuser. Welchen Grund hätten diese Firmen, Geld für eine Linux-Version ihrer Programme auszugeben? Zur Erinnerung: 97 Prozent der Computernutzer weltweit verwenden kein Linux. Wo kein Markt ist, entwickelt niemand Produkte. Und wo keine Produkte sind, entsteht kein Markt. Dies ist ein Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen ist.

Immerhin dürfte der ein oder andere Mutige durchaus einen Versuch mit Linux wagen. Einige haben es ja bereits schon getan: Mit Acrobat Reader, Duden, Real- und Flashplayer stehen erste portierte Programme zur Verfügung. Allerdings: Alle diese Linux-Ports existieren schon länger, und ihre Anzahl wächst kaum. Ja, es gibt sogar rückläufige Tendenzen: Bot Skype Anfang letzten Jahres noch Linux-Versionen seiner VoIP-Software im Monatstakt an, wird es langsam fraglich, ob die für Windows bereits im November letzten Jahres erschienene Version 2 überhaupt jemals für Linux erscheint.

Um die Chancen von Linux auf dem Desktop beziffern zu können, muß man das Profil der einzelnen Anwendergruppen verstehen. Eine sehr aufschlussreiche Betrachtungsweise charakterisiert das Desktop-Benutzerspektrum nach dem Wissenstand des Anwenders und dem Umfang der verwendeten Softwarepalette. Am einen Ende des Wissensspektrum befinden sich die reinen Anwender, für die der Computer ein Mittel zur Lösung alltäglicher Aufgaben ist. Das benötigte Programmsortiment beschränkt sich weitgehend auf einen Browser, vielleicht noch ein E-Mail-Programm und ein Office-Paket.

Am anderen Ende des Wissensspektrums stehen die Softwareentwickler. Ihre Programmpalette ist zwar etwas größer, aber ebenfalls übersichtlich und auf die Softwareentwicklung fokussiert. Existiert eine benötigte Anwendung nicht, können sie sie notfalls selbst schreiben.

Die meisten Programme verwenden die so genannten Poweruser. Sie liegen etwa in der Mitte des Wissensspektrums, kennen sich also mit Rechner und Betriebssystem einigermaßen aus. Sie versuchen, für jedes mögliche Problem das passende Programm zur Hand zu haben - unabhängig davon, ob sie das Problem überhaupt jemals haben werden. Sie leben am Rechner häufig ihren Spieltrieb aus. Vom Poweruser sinkt die Anzahl der verwendeten Programme in Richtung der beiden Ränder des Wissensspektrums.

Derzeit erfüllt Linux die Bedürfnisse der beiden Randgruppen am besten. Programmierer können sich aufgrund der Offenheit des Systems voll entfalten und Lücken bei den Anwendungen mit Hilfe Gleichgesinnter stopfen. Die Freiheit, sich derart selbst verwirklichen zu können, ist ihnen wichtiger als die Verfügbarkeit vieler kommerzieller Programme.

Auch die Bedürfnisse des genügsamen Computernutzers kann Linux gut bedienen, sofern zur Installation und bei Problemen ein Experte zur Hilfe gerufen werden kann - in Firmen mit IT-Abteilung ebenso wie beim heimischen PC, den Sohn oder Enkeltochter zum gelegentlichen Surfen und Mailen eingerichtet haben. Die einfache Wartbarkeit, die geringe Anfälligkeit für Schädlinge und der Kostenvorteil sind die Hauptgründe, weshalb Linux hier an Popularität gewinnt.

Die Poweruser allerdings können sich derzeit kaum für Linux begeistern: Sie möchten nicht auf ihre Spiele und Tools, Multimedia-Anwendungen und GUI-Helferlein verzichten.