Wie die Krise tötet

Eine Studie britischer Forscher zeigt auf, wie die Zahl der Suizide in der Krise steigt, die Steuerwirkung der Politik wird allerdings überschätzt

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"Kapitalismus tötet" ist eine Parole, die in der außerparlamentarischen Linken gelegentlich skandiert wird. Jetzt hat eine Studie britischer Wissenschaftler der Universität Oxford und der London School of Hygiene & Tropical Medicine , die im "British Journal ofPsychiatry" erscheinen wird, gezeigt, dass die Krise in Europa und Nordamerika zu mehr als 10.000 zusätzlichen Selbstmorden geführt hat. Die Forscher schreiben, wie die BBC berichtet, dass die Zahl der Selbstmorde "deutlich angestiegen" sei – und dass dies zumindest teilweise vermeidbar gewesen wäre.

Arbeitslosigkeit, Schulden, Verlust der Wohnung

Die Wissenschaftler haben für ihre Studie Daten aus 24 EU-Ländern sowie aus den Vereinigten Staaten und Kanada ausgewertet. Die Zahl der Selbstmorde sei in Europa bis zum Jahr 2007 zunächst zurückgegangen. Im Jahr 2009 gab es dann einen Anstieg um 6,5 Prozent, der in
dieser Deutlichkeit bis 2011 anhielt. In den Vereinigten Staaten sei die Zahl der Suizide bereits früher gestiegen, die Entwicklung habe sich aber mit Ausbruch der Wirtschaftskrise verstärkt. Als die größten Risikofaktoren machte die Untersuchung dementsprechend Arbeitslosigkeit, Verschuldung und den Verlust des Eigenheims aus.

Eine Überraschung sind die Zahlen allerdings nicht. Bereits 2012 titelte der Spiegel: "Steigende Selbstmordraten. Wenn die Krise tötet". Damals machte der öffentliche Suizid eines Rentners in Athen Schlagzeilen, der in einem Abschiedsbrief die Politik der Troika heftig angriff (Rezession treibt mehr Menschen in den Selbstmord).

Sowohl in dem Spiegel-Artikel vor zwei Jahren als auch in den Berichten über eine Studie aus dem Jahr 2009 (Mehr Selbstmorde in Zeiten von Wirtschaftskrisen) wird der Eindruck erweckt, als wären die Suizide vor allem ein Problem in den Ländern der europäischen Peripherie wie Griechenland, Spanien, Italien und Portugal. Natürlich sind die Suizide in diesen Ländern besonders hoch gewesen, weil viele Menschen durch die Krise existentiell betroffen waren und ins Elend gestürzt wurden. Doch gerne wird vergessen, dass der Standort Deutschland gerade deshalb so gut durch die Krise kam, wie immer wieder behauptet wird,weil dort der Preis der Ware Arbeitskraft besonders stark gesenkt wurde. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Agenda 2010, deren zehntes Jubiläum sich bald jährt.

Im Gedenken an die Opfer der Krise auch in Deutschland

Michael Fielsch widmet sich den Menschen, die die Agenda 2010 nicht überlebten. "Jeden Freitag platzieren wir im Rahmen von polizeilich angemeldeten Kundgebung vor Jobcentern (Opfer-)Kreuze, auf denen die Schicksale von Menschen stehen, die im Zusammenhang mit der Agenda 2010ums Leben kamen", erklärt er gegenüber Telepolis.

Mittlerweile hat er 54 Opfer im Zusammenhang mit der Agenda 2010 dokumentiert. "Überwiegend handelt es sich um Suizide. Aber wir erinnern auch an Menschen, die bei Hausbränden ums Leben kamen, die von Kerzen verursacht waren, nachdem in ihren Haushalten Strom und Gas abgestellt wurde", erklärt Fielsch. An die Berliner Rentnerin Rosemarie Fließ, die zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung starb, erinnert ebenso ein Kreuz wie an die Mutter, die mit ihrem Sohn in der Wohnung verhungerte, nachdem das Jobcenter die Zahlungen völlig eingestellt hat. Ein Großteil der dokumentierten Todesfälle ist, wenn überhaupt, nur regional bekannt geworden, sie wurden aber als Einzelschicksale behandelt.

Es handelt sich um einen Systemfehler

"Wir wollen mit unserer Aktion zeigen, dass es tausende Einzelfälle gibt und es nicht um individuelle Schicksale, sondern um einen Systemfehler geht", erklärt Fielsch. Damit ist seine Kritik grundsätzlicher, als die der britischen Forscher, die vor allem eine falsche Politik als Ursache für die Krise und die Selbstmorde ausmachen. So sei die Zahl der Selbstmorde in Finnland, Schweden und Österreich auch deshalb in der Krise nicht gestiegen, weil die dortigen Regierungen Beschäftigungsprogramme aufgelegt und Löhne subventioniert hätten, argumentieren die Wissenschaftler und outen sich hier als Anhänger linkskeynsianistischer Wirtschaftskonzepte.

Sicher gibt es im Rahmen des Kapitalismus bestimmte Spielräume für Sozialreformen, die meistens auch durch gewerkschaftliche und außerparlamentarische soziale Bewegungen erkämpft werden. Es ist auch richtig, dass die Austeritätspolitik, wozu auch die Agenda 2010 gehört, politisch mit dem Ziel geplant wurden, den Preis der Ware Arbeitskraft so weit zu senken, dass der deutsch-europäischen Wirtschaftsstandort mit anderen Standorten weltweit konkurrieren kann. Diese Mechanismen hat Albert F. Reiterer inseinem Buch //www.labournet.de/politik/eu-politik/wipo-eu/albert-f-reiterer-der-euro-und-die-eu-zur-politischen-okonomie-des-imperiums/:"Der Euro und die EU. Zur politischen Ökonomie des Imperiums" gut herausgearbeitet. Aber die Konkurrenz der Standorte ist keine Erfindung der Politiker, sondern gehört zu den Zwängen des Kapitalismus.