Leben in der Kilowattkommune

Eine energieautarke Siedlung in Norderstedt will sich nicht nur unabhängig von Energieerzeugern machen, sondern auch ein lokales Smart Grid betreiben.

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Von
  • Marc Wilhelm Lennartz

Eine energieautarke Siedlung in Norderstedt will sich nicht nur unabhängig von Energieerzeugern machen, sondern auch ein lokales Smart Grid betreiben.

Wer ein neues Haus baut, will nicht unbedingt auch ein Auto dazu kaufen. Doch genau das war Vorbedingung für die Bauherren einer neuen Mustersiedlung in Norderstedt. Das Elektroauto Nissan Leaf ist Teil eines Pflichtpakets, zu dem unter anderem noch eine Photovoltaik-Anlage, ein Hausstromspeicher in Form einer Lithium-Ionen-Batterie und ein Nahwärmeanschluss gehören. Das Zusatzpaket summiert sich zwar auf 60000 Euro, bietet dafür aber ein großes Versprechen: Die Bewohner sollen sich damit komplett unabhängig von Energieerzeugern machen können – als erste Siedlung dieser Art in Deutschland.

Der Unternehmer Mustafa Cumur war einer der ersten Bauherren im Solardorf und hatte schon lange ein bezahlbares Grundstück in der Nähe von Hamburg gesucht: "Da kam uns Norderstedt sehr gelegen. Zudem hätten wir uns ohnehin eine PV-Anlage auf unseren Neubau installieren lassen." Auch das Paket mit Stromauto und eigenem Stromspeicher habe ihn nicht abgeschreckt.

Nicht nur Cumur fand die Auflagen akzeptabel. Die Hälfte der Grundstücke ist bereits an Bauherren verkauft, fünf Häuser komplett und fünf fast fertiggestellt. Einige Käufer gingen sogar freiwillig über die Auflagen hinaus und ließen sich mehr als die im Bebauungsplan vorgesehene Mindestfläche von 25 Quadratmetern Photovoltaik-Elemente aufs Dach schrauben. Damit übertreffen sie die anvisierte Spitzenleistung von 3,6 Kilowatt pro Dach.

Den Zusatzkosten stehen laut der Immobiliengesellschaft Schilling Einsparungen von bis zu 21.000 Euro gegenüber – da unter anderem keine Heizungsanlage, kein Gasanschluss und kein Kamin nicht mehr nötig sind. Auch die Kosten für Brennstoff wie Gas oder Pellets entfallen. Damit sparen die Besitzer nach der Kalkulation des Projektträgers noch einmal etwa 2200 Euro pro Jahr. Bestätigt sich das, würde sich die Mehrinvestition nach frühestens 18 Jahren amortisieren.

Das Besondere an der Solarsiedlung: Anders als frühere Siedlungen, die Energieautarkie für sich reklamieren, sollen die Norderstedter sich nicht nur rein bilanziell selbst versorgen, sondern sich tatsächlich weitgehend physikalisch vom Netz unabhängig machen. Aufs gesamte Jahr gerechnet soll die Siedlung einen elektrischen Deckungsgrad von 72 Prozent erreichen. Die restlichen 28 Prozent übernimmt ein wärmegeführtes Erdgas-Blockheizkraftwerk (BHKW) der Stadt Norderstedt in einer nahe gelegenen Schule. Es speist das Nahwärmenetz, das die Häuser über eine Fußbodenheizung warm hält. Lastspitzen deckt ein zentraler Gaskessel ab. Darüber hinaus gibt es zwar eine Stromnetzanbindung, die soll aber nur als letzte Reserve dienen.

Die Häuser sollen untereinander über ein – noch einzurichtendes – lokales Smart Grid vernetzt werden. Es misst dann permanent Stromproduktion sowie -verbrauch und regelt die Energieflüsse. Die 24-kWh-Akkus der Elektroautos könnten später als Stromzwischenspeicher fungieren und dann überschüssigen Strom wieder zurückspeisen. Die Technik dafür ist allerdings noch zu teuer. Daneben gibt es noch stationäre Hausstromspeicher (Kapazität 8,1 kWh) mit integriertem Wechselrichter.

Ihren entscheidenden Vorteil sieht Andreas Piepenbrink, Geschäftsführer des Herstellers E3/DC, darin, dass sie sowohl den Gleichstrom der Solaranlage als auch den Wechselstrom des BHKW "parallel speichern, abrufen und an die Nachbarhäuser abgeben können". Denn die Bewohner sollen den Plänen zufolge mit allen Nachbarn vernetzt werden und diese gegen Vergütung versorgen. Ist der eigene Bedarf allseits gedeckt und alle Batterien geladen, speist man den überschüssigen Strom ins Siedlungsnetz ein. Wenn alle Pkw-Batterien und Hausspeicher geladen sind, könnte der überschüssige Strom ins öffentliche Netz fließen.

Die Gebäude werden gemäß dem KfW-Energieeffizienzstandard 70 gebaut. Bei ihnen darf also der Energieverbrauch 60 kWh pro Quadratmeter im Jahr nicht überschreiten. Die Besitzer müssen zudem keine EEG-Umlage auf den Eigenverbrauch zahlen. Denn die seit August 2014 geltende Neufassung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes befreit PV-Kleinanlagen bis zehn kW Leistung oder mit weniger als 10000 kWh Eigenverbrauch von der Umlage. Dies gilt auch für die Häuser im Solardorf.

Der Projektinitiator und Geschäftsführer der Immobiliengesellschaft, Werner Schilling, ist zufrieden: "Die bereits erstellten Häuser weisen bisher hervorragende energetische Bilanzen auf. Wir erhalten immer wieder Anfragen anderer Kommunen und Bauträger." Vor allem im norddeutschen Raum sei die Resonanz groß. Man wird aufmerksam verfolgen, ob die auf mehrere Jahre angesetzten Messungen von Stromproduktion und Verbrauchsverhalten tatsächlich wie berechnet ausfallen. Dann wird sich auch zeigen, ob der Siedlungsprototyp Schule machen wird.

Korrekturen:
In einer früheren Version des Artikels hieß es, alle 27 Grundstücke seien verkauft. Tatsächlich hat die Immobiliengesellschaft Schilling nur 13 selbst an Bauherren verkauft, die restlichen 14 erwarb ein anderer Bauträger. Der hat seinerseits noch nicht alle veräußert. Zudem liegen die kalkulierten Einsparungen bei – bis zu – 21.000 Euro und nicht 30.000 Euro. Entsprechend verlängert sich die kürzeste Amortisationszeit. Neu ist auch die Information von der Immobiliengesellschaft, dass die Technik für das Rückeinspeisen der Energie aus den Autobatterien doch zu teuer ist. Deshalb wurde dieser Baustein des Solarpakets zurückgestellt. Der ursprüngliche Lieferant mit einer günstigeren Lösung konnte nicht wie vereinbart liefern. Schließlich hieß es im früheren Artikel, dass sich die Eigentümer aussuchen können, mit welchen ihrer Nachbarn sie sich vernetzen. Das ist nicht möglich. In der Siedlung versorgen sich grundsätzlich alle Bewohner untereinander mit Strom. Ob das Strom- und Wärmenetz wie ursprünglich geschrieben, in das Eigentum der Bauherren übergehen wird, ist derzeit unklar. Zu guter Letzt hat sich Herr Cumur von seinen Aussagen distanziert, er würde später mit dem Nissan Leaf zur Arbeit fahren und sehe über den Bauverlauf optimistisch, daher wurden sie gestrichen.

Diese Korrekturen erfolgten anhand zusätzlicher Informationen von einer Bauherren-Initiative und der Immobiliengesellschaft Schilling. Allerdings können wir im Rahmen des Artikels nicht auf alle Kritikpunkte eingehen, die auf der unten angesprochenen – und erst nach unserer Veröffentlichung online gestellten – Webseite aufgezählt werden. Wir haben diejenigen Aspekte des Pilotprojekts aktualisiert, die auch im Text vorkommen und deren Inkorrektheit oder Ungenauigkeit wir nach Rücksprache mit beiden Parteien nachvollziehen können. Dispute über geplante Vorhaben, die nicht wie vorgesehen verwirklicht werden können oder nicht mehr gewünscht sind, können wir nicht moderieren. (bsc)