Die neue Arbeiterbewegung

Für immer mehr Pendler werden Elektroräder eine Alternative zu Auto, Bus oder Bahn. Die ersten Kommunen stellen sich gezielt darauf ein.

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  • Hans Dorsch

Für immer mehr Pendler werden Elektroräder eine Alternative zu Auto, Bus oder Bahn. Die ersten Kommunen stellen sich gezielt darauf ein.

Rund 30 Millionen Menschen in Deutschland pendeln täglich zur Arbeit. Die meisten mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Auto. Und kaum einer mit dem Fahrrad. Ab fünf Kilometern ist vielen die Strecke zu weit, oft steht auch noch ein Berg im Weg, und bei Hitze ist die Bürokleidung verschwitzt. Geht überhaupt nicht.

Wirklich nicht? Dominic Hallau hat es ausprobiert und seinen Smart gegen ein Pedelec eingetauscht. Schmunzelnd erinnert sich der Softwareentwickler an die besorgte Reaktion seines Chefs: "Hast du Geldprobleme? Brauchst du Hilfe?" Dabei hatte er nur Lust auf ein Experiment: Auto weg, E-Bike her! Das war vor fünf Jahren. Seitdem trägt der 34-Jährige jeden Morgen um 8 Uhr sein kompaktes Pedelec aus dem Keller seines Wohnhauses in der Bielefelder Innenstadt.

In zwei Minuten fährt er damit zur nächsten Bahnstation. Der Regionalzug bringt ihn und das Rad in 15 Minuten an den Stadtrand. Die restliche Strecke fährt er mit elektrischer Unterstützung in einer halben Stunde. Zwölf Kilometer entlang der Landstraße bis zu seinem Arbeitgeber, einem großen Hersteller für Automatisierungstechnik im kleinen Ort Verl. Er kommt unverschwitzt in Berufskleidung an. "Die Umstellung hat sich ausgezahlt", erzählt er. "Eine Stunde täglich, in der nichts stört, in der man nicht ans Telefon gehen kann. Morgens eine halbe Stunde, um das System hochzufahren, abends eine halbe Stunde, um die Probleme im Büro zu vergessen. Das tut mir sehr gut."

Was vor fünf Jahren noch Kopfschütteln auslöste, entwickelt sich zu einer neuen Art des Berufsverkehrs. Jedes zehnte verkaufte Fahrrad ist mittlerweile ein Pedelec. Und viele nutzen es zum Pendeln. Denn ganze 46 Prozent der Beschäftigten in Deutschland haben einen Weg von weniger als zehn Kilometern zur Arbeit, weitere 28 Prozent weniger als 24 Kilometer. Für die Mehrheit sind E-Bikes damit eine echte Alternative zu Auto, Bus oder Bahn.

Matthias Lossau vom Institut für Transportation Design der HBK Braunschweig untersucht in der Studie Pedelection seit einem Jahr das Mobilitätsverhalten privater Pedelec-Besitzer. Schon vor der Schlussauswertung ist klar: Das Peledec ist kein reines Freizeitfahrzeug mehr, sondern wird häufig für den Weg zur Arbeit genutzt. Die Räder benötigen keine Zulassung, nicht mal einen Helm muss man aufsetzen. Der ist nur bei den schnellen S-Pedelecs vorgeschrieben, ebenso wie ein Nummernschild und ein Rückspiegel. "Die Leute kaufen das Pedelec einfach und fahren es. Das ist ein großer Vorteil", sagt Martin Randelhoff, Initiator des Internet-Forums "Zukunft Mobilität" und einer der aktivsten Beobachter der Mobilitätsentwicklung in Deutschland. Zudem sind die pendlerüblichen Entfernungen für die Pedelec-Akkus kein Problem. Das sei ein Vorteil gegenüber dem Elektroauto, "bei dem immer über die Reichweite gemeckert wird", so Randelhoff.

Kommunen, Stadtplaner und Arbeitgeber stellen sich allmählich auf den Wandel ein und werden mitunter erstaunlich kreativ, um dem neuen Radfahren Vorschub zu leisten: Manche Arbeitgeber bieten an, Pedelecs über den Betrieb zu leasen, sodass der Mitarbeiter nur den geldwerten Vorteil von einem Prozent des Wertes versteuern muss. Beim Entwurf von Wohnhäusern sehen Bauherren immer öfter Raum für Fahr- räder vor. Stadtplaner suchen nach unvermietbaren Ladenlokalen oder Erdgeschosswohnungen, um darin nach niederländischem und französischem Vorbild sichere Quartiersgaragen für die wertvollen Fahrzeuge einzurichten.

Immer mehr Städte planen breite, sichere Fahrtrassen für Elektroräder. Der neue eRadschnellweg in Göttingen etwa bringt Pedelec-Fahrer sicher und zügig mitten durchs Stadtzentrum. Ein öffentlicher Zähler zeigt schon jetzt fast 6000 Radfahrer pro Tag an. Wenn die Trasse vollständig ausgebaut ist, verbindet sie den Bahnhof mit der Universität, zu der täglich 25000 Studenten und 14000 Beschäftigte strömen. Vielleicht misst der Zähler in Göttingen dann ebenfalls 30000 Radfahrer – wie sie an einer ähnlichen Fahrradroute in Kopenhagen an der Königin-Luise-Brücke schon heute registriert werden.

In Fahrradnationen wie Dänemark oder Holland gibt es längst auch Radschnellwege, die Städte und Gemeinden miteinander verbinden. Solche Überlandrouten sollen nun auch in Deutschland entstehen. Allein in Nordrhein-Westfalen sind fünf Trassen mit insgesamt 150 Kilometern Länge vorgesehen. Der Velo-Express-Weg im westlichen Münsterland ist eine davon. Geht es nach Lothar Mittag, dem Bürgermeister der Stadt Rhede, soll der Schnellweg schon ab 2016 gebaut werden.

Er verknüpft fünf Kleinstädte und Gemeinden, räumt Radfahrern mit einer eigenen Fahrspur Platz auf Landstraßen ein und verschafft ihnen Vorfahrt mithilfe von fahrradgerechten Kreisverkehren, Unter- und Überführungen. Auf einem großen Teil der Strecke findet ein alter Verkehrsweg neue Verwendung: eine stillgelegte Bahntrasse. Sie wird bereits als Radweg genutzt und muss für den Schnellverkehr nur verbreitert werden. Über diesen neuen alten Weg sind auch die Bahnhöfe wieder erreichbar, die den Rückbau der letzten Jahrzehnte überstanden haben. Das Pedelec wird zum komfortablen und schnellen Zubringerfahrzeug für die Bahn.

Oder es dient als staufreie Alternative für den gesamten Weg. Melani Lauven beispielsweise fuhr lange mit einem Fahrrad ohne elektrische Unterstützung zur Arbeit. Nachdem sie und ihr Mann jedoch vor einem Jahr an den Stadtrand gezogen sind, hat sich der Weg um zehn Kilometer verlängert. Sie versuchte, weiterhin mit dem Fahrrad zu fahren, merkte jedoch, dass 90 Minuten Fahrt pro Strecke zu lang und zu anstrengend sind. Deshalb holt sie jetzt jeden Morgen ihr schnelles S-Pedelec aus der Garage in Köln-Vogelsang. Das Rad unterstützt sie bis zu einer Geschwindigkeit von 45 Kilometern pro Stunde. Die 25 Kilometer bis zur Firma schafft sie damit in 50 Minuten. Dort duscht sie und zieht sich Arbeitskleidung an.

Auf dem Weg durch die Stadt sieht sie täglich die Probleme der alten Infrastruktur – und freut sich, dass sie sich für ein S-Pedelec entschieden hat: "Ich habe den Vorteil, keine Radwege benutzen zu müssen, also auch wirklich schneller voranzukommen als mit einem Fahrrad, das auf den Radweg gezwungen wird." Nur auf der Rheinbrücke nimmt sie den holprigen Radweg, der Straßenverkehr ist dort einfach zu gefährlich.

Nach elf Monaten und 8000 gefahrenen Kilometern ist Melani immer noch begeistert. "Ich sitze täglich zwölf Stunden am Schreibtisch. Deshalb brauche ich das Fahrradfahren – sowohl als mentale als auch sportliche Ablenkung." (bsc)