Nur die Hälfte der Geschichte

Ein 88-Jähriger lebt gut - ohne die Verbindung seiner Gehirnhälften

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Das Fachblatt "Neurocase" hat den Fall eines 88-Jährigen US-Amerikaners vorgestellt , der seit seiner Geburt ohne die übliche Verbindung der beiden Großhirnhälften lebt. Normalerweise verbindet ein starkes Nervenbündel, der sogenannte Balken (lat. Corpus callosum), die rechte und linke Großhirnhälfte beim Menschen. Der Balken ist die zentrale Instanz in der Koordination dieser beiden Hemisphären.

Der Mann hatte aufgrund junger, motorischer Komplikationen mit der linken Hand einen Arzt konsultiert. Die anschließenden Tests zeigten altersgemäß gute kognitive Leistungen. Ein Hirnscan überraschte die Ärzte, der Corpus callosum fehlte komplett. Nach eigenen Angaben hat der Mann bis heute ein unbeeinträchtigtes Leben geführt. Dies ist überraschend, denn bei Epilepsiepatienten, denen man den Balken entfernt, kommt es oft zu starken Störungen von Aufmerksamkeit oder psychischen Krankheiten.

Der nun veröffentlichte Fall weist erneut auf die frappante Fähigkeit des Gehirns zur neuronalen Plastizität hin. Es kann ständig neue Nerven und Nervenbahnen bilden. Ist es früh genug am Werk, kann es selbst extreme strukturelle Fehlbildungen reparieren. Aber auch im Erwachsenenalter kommt dies beispielsweise Schlaganfallpatieten zugute. Dazu kommt, dass der Balken nur die Großhirnhälften miteinander verbindet. Die anderen Hauptabschnitte des Gehirns arbeiten unabhängig davon. Über diese oder andere Regionen nehmen nun wahrscheinlich auch die Großhirnhälften trotz fehlenden Balkens Kontakt zueinander auf.

Schon 2013 wiesen Ärzte auf den Fall eines damals 17-Jährigen Italieners hin, dem aufgrund eines Tumors die gesamte linke Großhirnhälfte im Alter von zwei Jahren entfernt worden war. Der Mann kommuniziert heute im Alltag weitgehend normal. In Deutschland ist der Fall von Philipp Dörr bekannt, dem seit dem elften Lebensjahr nur noch die linke Großhirnhälfte zur Verfügung steht. Als Erwachsener begann er das Psychologiestudium.