Neue soziale Einschnitte werden propagandistisch vorbereitet

Friedrich Merz will wieder in die aktive Politik eingreifen und seine Fans in der Union trommeln für eine Agenda 2020, während Washington vor einer selbstzerstörerischen deutschen Wirtschaftspolitik warnt

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"Das Richtige tun. Für eine Agenda 2020“ , lautet ein Brief von Unionsabgeordneten, der nicht nur in der Überschrift an jene Agenda 2010 anknüpft, mit der unter Bundeskanzler Gerhard Schröder der Weg für Leiharbeit und Niedriglohn erst in Deutschland und dann auch im gesamten EU-Raum freigemacht wurde. In dem Brief heißt es:

Die harten Jahre und die heftigen Auseinandersetzungen um den richtigen Weg sind uns allen noch vor Augen. Es muss uns alle Anstrengung wert sein, nicht wieder in solch eine Situation zu geraten. Doch anstatt sich zu den Erfolgen der Agenda 2010 zu bekennen, will die SPD sie nun in Teilen verschämt zurückdrehen. Wir müssen aber in einer Agenda 2020 das Richtige tun, damit es uns auch noch in vier, acht oder in zehn Jahren gut geht.

Dass die Agenda 2010 wesentlich mit dafür gesorgt hat, dass Niedriglohn, Hartz IV trotz Vollzeitarbeit und die damit verbundene Altersarmut mittlerweile in der vielzitierten Mitte der Gesellschaft angekommen ist, wird natürlich nicht erwähnt. Dass "Wir" und "uns" in dem Text so häufig verwendet werden, deutet darauf, dass die Kapitalseite durch die Durchsetzung der Agenda 2010 tatsächlich wesentlich bessere Verwertungsbedingungen bekommen hat.

Schließlich war das erklärte Ziel der Maßnahme, den Wert der Ware Arbeitskraft zu senken. In vielen Medien wurde gemutmaßt, dass sich der Brief nicht nur gegen die SPD richtet, der zu Unrecht nachgesagt wurde, sie wäre von der Agenda 2010-Politik abgerückt, sondern auch gegen den Flügel in der Union, der zu nachgiebig gegenüber sozialen Forderungen sei. Manche sahen den Brief sogar gegen die Merkel-Politik insgesamt gerichtet.

Doch Merkel ist bekanntlich flexibel. Sie hatte sich noch vor 10 Jahren als eine Art Deutschlandausgabe von Maggie Thatcher inszenieren lassen, die die letzten Reste des Sozialstaats schleift, die die SPD noch stehen gelassen hat. Erst als deutlich wurde, dass damit keine Wahlen zu gewinnen waren, schwenkte Merkel um.

Friedrich Merz hatte diesen Schwenk nicht mitgemacht und sich damals aus der aktiven Bundespolitik zurück gezogen, um als hochdotierter Wirtschaftsanwalt zu arbeiten. Nun wird über ein mögliches Comeback geschrieben, so dass er die Interessen seiner Klientel auch in der Politik wieder offen vertreten kann.

Teile des Kapitals orientieren sich nach Rechts

Die FAZ benennt den politischen Kontext, in dem ein Merz wieder politisch aktiv werden könnte: Der Wirtschaftsflügel ist unzufrieden mit der Politik der großen Koalition (Stichworte: Rente ab 63, Mindestlohn) - und mithin auch der eigenen Parteispitze. Der frühere Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrates, Heinrich Weiss, liebäugelt gar mit Positionen der "Alternative für Deutschland".

Tatsächlich hat der Aufsichtsratsvorsitzender der SMS-Group, Weiss, der in den 80er Jahren Vorsitzender des CDU-Wirtschaftsrates war, offen seine Unterstützung für die AfD erklärt, will aber vorerst nicht Mitglied werden. Er möchte den wirtschaftsliberalen Flügel in der AfD stärken, erklärte Weiss und sieht sich damit mit dem AfD- Mitglied Hans Olaf Henkel auf einer Wellenlänge. Auch mit den Familienkonservativen in der AfD, die gegen weitere Rechte für Schwule und Lesben agieren, hat der ehemalige Burschenschaftler Weiss keine Probleme.

Nur manche Rechtsausleger will er nicht in der Partei sehen, weil die deren Zukunft schaden. Weiss erklärt zudem: "Viele Unternehmer denken wie ich." Damit scheint er nicht ganz Unrecht zu haben. Der Firmengründer der Außenwerbungsfirma Wall ist sogar von der FDP in die AfD übergetreten, meldet der Spiegel. Er bezeichnet die AfD als Partei des deutschen Mittelstands. Wall war in den letzten Jahren als eifriger Protagonist der Initiative Soziale Marktwirtschaft hervorgetreten. Dieses Interesse für die AfD macht deutlich, dass auch heute Kapitalkreise eine ihnen zeitgemäße Rechte unterstützen, mit der sie vor allem dem Druck auf die Union erhöhen sollen, um Kapitalinteressen besser durchzusetzen.

Nach dem Ausfall der FDP könnte für manche Kapitalkreise die AfD dafür geeignet erscheinen. Der Zeitpunkt ist nicht ungünstig gewählt. Viel wird über eine mögliche neue Wirtschaftskrise gesprochen, die auch in Deutschland Auswirkungen hat. Das könnte die Kapitalkreise animieren, nun erst einmal propagandistisch neue soziale Einschnitte für die Masse der Bevölkerung vorzubereiten.

Es gibt genügend historische Parallelen, wie eine Wirtschaftskrise mit der Angst vor neuer Massenarbeitslosigkeit von Kapitalkreisen für einen Angriff auf den Sozialstaat genutzt wurde. Wenn das Kapital nach rechts geht, unterstützt es auch politische Parteien, die eine solche Politik des sozialen Kahlschlags in Teilen der Bevölkerung hegemonial durchsetzen und Kritiker repressiv bekämpfen können.

Die Weltwirtschaftskrise, die mit dem Jahr 1929 begann, hat für Teile des deutschen Kapitals die NSDAP, die vorher eine von vielen völkischen Kleingruppen in der Weimarer Republik war, für Teile des Kapitals attraktiv gemacht. Auch damals betonte sie, dass bestimmte Flügel der Partei, die die nationalsozialistische Propaganda zu ernst nahmen, ausgeschaltet werden müssen, damit die Partei eine Zukunft hat. Nun kann die AfD heute nicht mit der NSDAP des Jahres 1929 gleichgesetzt werden. Es fällt aber auf, dass das Kapital bei der Suche nach autoritären Krisenlösungsmodellen und Angriffen auf den Sozialstaat die real existierenden Rechtsparteien als Bündnispartner ansieht.

Druck auf die SPD

Dabei wird die Auseinandersetzung für eine Politik der neuen sozialen Zumutungen auch innerhalb der Regierungskoalition ausgetragen. Selbst so harmlose Reförmchen wie eine Frauenquote für Dax-Unternehmen wird von der CSU-Politikerin Gerda Hasselfeldt zur Disposition gestellt.

Die Eintrübung der wirtschaftlichen Lage ist Anlass für uns darüber nachzudenken, ob alles was wünschenswert ist, sofort umgesetzt werden muss. Wir sollten deshalb kritisch prüfen, ob wir das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, sofort machen müssen oder ob wir es später in der Wahlperiode angehen.

Damit ist natürlich auch weiterhin die konkrete Ausformulierung des Mindestlohns in der Debatte. Es geht zunächst einmal darum, die SPD unter Druck zu setzen, dass Reform weiterhin ein Begriff sein muss, vor dem die Subalternen Angst haben sollen und nicht etwa denken, er könnte Verbesserungen bringen. Die SPD als Agenda 2010-Partei wird sich da erfahrungsgemäß nicht lange unter Druck setzen lassen müssen, bis sie diese Position selber einnimmt.

Wenn das nicht schnell genug geht, könnte immer noch eine Koalitionskrise inszeniert werden, der Neuwahlen folgen, damit es der AfD ermöglicht wird, auch im Bundestag als Variante der rechten Krisenlösungsalternative aufzutreten.

"Die deutsche Wirtschaftspolitik ist gefährlicher und zerstörerischer als die jeder anderen Nation"

Demgegenüber stehen Kapitalkreise, die zumindest eine kurzfristige Krisenbehebung eher im Bündnis mit der SPD und den Gewerkschaften sehen. So setzten sich ausgerechnet die EZB und die Bundesbank für moderat steigende Löhne ein und forderten die DGB-Gewerkschaften auf, sich im Interesse der Wirtschaft nicht weiter mit Lohnzurückhaltung zufrieden zu geben.

Auch in der durchaus wirtschaftsnahen internationalen Presse wird die von Deutschland maßgeblich forcierte Austeritäspolitik als "gefährlich und zerstörerisch" bezeichnet. So schreibt die Washington Post:

Die deutsche Wirtschaftspolitik ist gefährlicher und zerstörerischer als die jeder anderen Nation. Das Land nutzt seine Dominanz in der Europäischen Union dazu, den kriselnden Staaten im Süden Austerität aufzuzwingen, und verurteilt dadurch mehr als 50 Prozent der jungen Leute in Spanien und Griechenland zur Arbeitslosigkeit. Die deutsche Politik hat den sozialen Zusammenhalt in den Mittelmeerländern erschüttert und dazu beigetragen, dass rechtsextreme Parteien wie der Front National in Frankreich und die Goldene Morgenröte in Griechenland erstarken. Die schlichtweg dumme Haushaltspolitik der Merkel-Regierung beginnt zudem, sogar der deutschen Wirtschaft zu schaden. Der weltweit erfolgreichsten Exportnation fehlt es an Nachbarn, die ihre Produkte noch kaufen könnten.

Wenn nun Teile des Kapitals diesen auch von Kapitalkreisen als zerstörerisch gesehenen Weg nicht nur fortsetzen sondern forcieren wollen, ist durchaus nicht nur aus sozialpolitischen Gründen Alarm angesagt. Auch am Ende der Weimarer Republik entschieden sich große Teile der Bevölkerung und der Kapitalverbände für eine solche zerstörerische Krisenlösungsstrategie.