Wo Volkes Stimme Recht spricht

Die Entscheidung der Grand Jury, die Tötung eines schwarzen Jugendlichen nicht zu ahnden, zeigt auch Folgen einer Auslagerung der Rechtssprechung an die Bevölkerung

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In diesen Tagen fühlen sich manche an die 1960er und 1970er Jahre erinnert, wenn sie die Bilder von protestierenden schwarzen US-Amerikanern sehen, die empört sind, dass der Tod des unbewaffneten Jugendlichen Michael Brown ungesühnt bleiben soll. Eine aus Bürgern von Ferguson, dem Tatort, zusammengesetzte Grand Jury, stufte den schießenden Polizisten als unschuldig ein und lehnte die Einleitung eines Verfahrens ab.

Hier wird aber auch deutlich, was passiert, wenn man Recht in die Hände des "Volkes" gibt, was heute oft positiv gesehen wird. Tatsächlich wird hier "Volkes Stimme" zum Recht erklärt. Eine mehrheitlich weiße Bevölkerung, für die schwarze Jugendlichen schon per se verdächtig sind und die ihnen die Schuld gibt, wenn sie getötet werden, kann hier ihr Ressentiment justitiabel machen. Hier wird auch deutlich, dass es keineswegs ein Fortschritt ist, wenn Recht und Gesetz in "Volkes Hand" gelegt wird. Es wäre vielmehr eine emanzipatorische Forderung, diese Entscheidung der Grand Jury durch ein unabhängiges Gericht außerhalb Fergusons anzufechten, das dann tatsächlich eher nach sachlichen Rechtsmaßstäben als nach Ressentiment entscheiden könnte.

Der "Rassenkonflikt" kehrt zurück in die Schlagzeilen

Wenn nun Springers konservatives Flaggschiff "Die Welt" nach der Entscheidung der Jury titelt: "Amerikas ungelöster Rassenkonflikt explodiert“, dann fühlt man sich auch wieder in die 1960er Jahre in Westdeutschland versetzt, wo schon die Wortwahl deutlich machte, dass ein Großteil der Journalisten damals ihren Beruf im Nationalsozialismus erlernt haben.

Eigentlich müsste sich im Jahr 2014 herumgesprochen haben, dass es keine Rassen und dementsprechend auch keinen Rassenkonflikt gibt. In den USA wie auch in anderen Ländern gibt es allerdings rassistische Unterdrückung. Nun werden sich viele Menschen wundern, dass auch nach fünf Jahren Obama-Regierung diese Unterdrückung noch eine solch' große Rolle spielt.

Die Empörung, die sich in den letzten Stunden auf den Straßen von Ferguson und anderen US-Städten zeigte, hat auch damit zu tun, dass viele Menschen der Meinung waren, die Zeiten, in denen das Töten schwarzer Menschen straffrei bleibt, gehörten der Vergangenheit an. Viele der Menschen, die jetzt auf die Straße gehen, gehörten zu denen, die den Amtsantritt von Obama mit großer Hoffnung begleiteten, die in der ersten Amtsperiode von einer neuen Zeit träumten, in der Rassismus, wenn nicht verschwunden, so doch zumindest zurückgedrängt ist.

Es gab nach der Amtseinführung des ersten schwarzen Präsidenten viele Stimmen, die darin einen endgültigen Sieg der Bürgerrechtsbewegung sahen. Bei ihnen ist die Enttäuschung jetzt besonders groß darüber, dass die Tötung eines unbewaffneten schwarzen Menschen noch immer ohne Konsequenzen bleibt.

Wie ein Bürgerrechtler vom FBI in den Tod getrieben werden sollte

Gleichzeitig wurde erst in diesen Tagen wieder deutlich, wie sehr auch die gewaltfreie Bürgerrechtsbewegung der 1960er und 1970er Jahre im Visier der Staatsapparate stand. Erst vor wenigen Tagen veröffentlichte die New York Times einen vom FBI fabrizierten Brief an Martin Luther King, in dem dieser mit Bezug auf eine außereheliche Beziehung zum Selbstmord gedrängt worden war.

Der anonyme Drohbrief sollte den Eindruck vermitteln, von einem enttäuschten Mitkämpfer Kings verfasst worden zu sein. Tatsächlich war er von einem Stellvertreter des FBI-Chefs Hoovers formuliert worden. In dem Brief wird Pastor King als "bösartiges, abnormes Tier" beschimpft. Er mündet in die Drohung:

Für Sie gibt es nur einen Ausweg. Den schlagen Sie besser selbst ein, ehe Ihr abscheuliches, abnormes und betrügerisches Wesen vor der Nation ausgebreitet wird.

Wie Martin Luther King waren in den 1960er Jahren zahlreiche Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung und des Black Power Movement Adressaten von fingierten Briefen, die das Ziel hatten, Streitereien in die Bewegung zu tragen, vorhandene Spannungen auszuweiten und bekannte Aktivisten zu verunsichern, ja sogar in den Tod zu treiben.

Der DDR-Geheimdienst wurde wegen der Anwendung ähnlicher Mittel in abgeschwächter Form gegen Oppositionelle mit Recht heftig verurteilt. Das Urteil "Unrechtsstaat" gründet auch darauf. Die Frage bleibt, ob dann auch die USA und viele andere Staaten unter dieses Verdikt fallen müssten.