Der Futurist: Leinen-los

Was wäre, wenn wir Strom drahtlos übertragen könnten?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 2 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Jens Lubbadeh

Was wäre, wenn wir Strom drahtlos übertragen könnten?

Der Hammer saust auf das kleine Netzteil herunter. Knack, Plastik bricht. Kweku dreht das Gerät um, wieder der Hammer. Noch mal knack. Das Gehäuse des Adapters springt auf wie die Hülle einer Nuss. Kweku zieht eine kleine Platine an zwei Drähten heraus. Aber er will den kleinen gelben Würfel, der an ihr hängt. In ihm ist die Kupferspule, das Herz des Stromtrafos. Mit einer Zange knapst Kweku den Würfel von den Drähten und wirft ihn in einen Eimer.

Er ist schon halb voll mit Würfeln. Das Kupfer einer Spule bringt zwar nur ein paar Cent in Accra, Ghana, der größten Müllhalde der Welt für Elektroschrott. Aber die Netzteil-Nuss hat Kweku nur eine Minute gekostet. Und es kommen immer mehr nach Accra.

Denn in der sogenannten westlichen Welt läuft seit einigen Jahren die gewaltigste Abwrackaktion aller Zeiten. Netzteile sind obsolet geworden, seitdem sich immer mehr Elektronikhersteller der Wireless Power Alliance (WPA) angeschlossen haben. Drahtlose Stromübertragung kann nun nahezu jedes elektronische Gerät aufladen – dank eingebautem Chip. Vor allem bei Mobilgeräten feierte die neue Technologie ihren Siegeszug. Die Industrie hatte schnell das passende Label: ein roter Kreis mit einem durchgestrichenen Stecker – "100% Wireless". End-lich ungebunden, jubelte die Presse, endlich frei. Und die "New York Times" witzelte: "Das schnurlose Telefon ist da. Wirklich."

Es war nicht nötig, die alten Geräte zu ersetzen. Die von der Firma WiTricity zur Marktreife gebrachte Technologie war retrokompatibel. Nachrüstsets mit Akku und Ladechip gab es bald für jedes mobile Gerät. Auf Senderseite nachzurüsten war auch einfach: Plug-in-Stecker für gewöhnliche Steckdosen, so groß wie Insektenverscheucher, verwandelten jedes Zimmer in eine drahtlose Stromoase.

Die Technologie ließ sich hochskalieren: Nikola Teslas alte Idee der Stromfunktürme lebte wieder auf, und riesige Energiebeamer entstanden in den USA, Japan und Frankreich. Deutsche Politiker sahen die Chance für die ins Stocken gekommene Energiewende. Wenn riesige Stromfunktürme den Windstrom von Deutschlands Küsten einfach gen Süden beamten und den Solarstrom nach Norden – waren damit die leidigen Debatten um Stromtrassen, Erdkabel und Energiespeicher überflüssig?

Zu früh gefreut: Zwar sprach schnell niemand mehr über hässliche Strom-trassen. Dafür aber über Elektrosmog. Es dauerte nicht lange, bis die deutsche Öffentlichkeit in den Stromfunktürmen eine neue Manifestation der alten Strahlenangst sah. Die Elektrosmog-Mahner hatten Konjunktur. Menschen, denen schon die alten schnurlosen Telefone nicht geheuer gewesen waren, sahen sich nun vom vermeintlichen Elektrosmog der 100-Prozent-Wireless-Welt erstickt.

Und nun noch diese bedrohlichen Türme. An den geplanten Standorten, darunter auch der ursprünglich aus symbolischen Gründen gewählte Ort Gorleben, bildeten sich neue Protestbewegungen. Ihr Symbol wurde das Netzkabel mit dem Stecker. Leute banden es sich um den Hals, um zu sagen: Ich will wieder an die Leine.

Um die Ängste zu entkräften, gaben das Bundeswirtschafts- und Bundesumweltministerium große Studien in den USA und Frankreich in Auftrag, um das Krebsrisiko im Umkreis der Türme zu untersuchen. Die wissenschaftliche Debatte war politisch so aufgeladen, dass keiner der Studienautoren es wagte, am Ende klare Aussagen zu machen.

Die Stellungnahme der Wissenschaftler wimmelte von Wörtern wie "möglicherweise", "vielleicht" und "unter Umständen nicht ganz unbedenklich". Am Ende kam gar nichts heraus. Und so wurde auch die 100-Prozent-Wireless-Energiewende wieder an die Leine gelegt. (jlu)