Warum niemandem geglaubt werden sollte, der eine Vergewaltigung anzeigt

Außer Kontrolle

Wenn Überzeugungswelten aufeinanderprallen, wo eine Versachlichung wichtig wäre

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Vergewaltigung ist, ohne Zweifel (und auch berechtigterweise) ein emotionales Thema. Niemandem, egal welchen Alters und welchen Geschlechtes, ist zu wünschen, diese Erfahrung machen zu müssen. Nur wäre es trotz aller verständlichen Emotionen beim Thema wichtig, dass man zumindest bei der Bewertung, wie mit Opfern von Vergewaltigungen umzugehen ist, eine Versachlichung versucht.

Dies klingt wie ein Widerspruch, ist jedoch keiner. Trotz der Emotionen, die beim Thema hochkommen, kann eine sachliche Diskussion geführt werden, ohne dass dies in eine Empathielosigkeit ausufert. Ähnliche Diskussionen finden sich auch bei Themen wie Abtreibung, Todesstrafe, Umgang mit Kinderpornographieproduzenten und -konsumenten usw.

Wichtig ist hier, dass versucht wird, zwei Ebenen zu trennen – eine Ebene ist die emotionale, die das Leid der Opfer zum Inhalt hat. Hier wird die Hilflosigkeit und Wut, die empfunden wird, durch Rufe nach Rache, atavistischen Vergeltungsritualen und durch Hassbekundungen kanalisiert.

Die zweite Ebene wäre die Diskussionsebene, die die erste Ebene in der Debatte um Möglichkeiten zur Verhinderung der Taten, Hilfe für Opfer und den rechtstaatlichen Umgang mit Tätern ersetzt.

Da es schwierig ist, von einer Ebene zur anderen zu wechseln (und um sicherzustellen, dass die Emotionen bei der Durchsetzung des Rechtstaates nicht im Wege stehen), werden Opfer und Angehörige von Opfern bei der Festlegung von Strafen nicht mit einbezogen oder gar alleinverantwortlich gemacht.

Beim Thema Vergewaltigung sollte zunächst einmal ein Konsens darüber entstehen, dass diese nicht lustig ist. Was sich hier so selbstverständlich anhört, ist es bedauerlicherweise nicht. Obgleich angenommen wird, dass Vergewaltigung in den meisten Fällen von Männern an Frauen ausgeübt wird, gibt es auch andere Konstellationen, die jedoch in der Diskussion bisher nicht nur wenig Platz finden, sondern auch in vielen Filmen oder den Gedanken der Menschen eher eine komödiantische Note bekommen.

An dieser Stelle sei auf den Fernsehspot der Gebühreneinzugszentrale verwiesen, die mit dem Klischee des vergewaltigten Gefängnisinsassen spielte. Dieses Klischee ist leider in vielen Gefängnissen traurige Realität - und die Tatsache, dass hier bis heute in vielen Gefängnissen nichts dagegen getan wird, sollte eher zum Nachdenken als zum darüber Lachen animieren. Dennoch ist die "Knastvergewaltigung" ein beliebter Comedy-Teil geworden, der schon im Film "Die Glücksritter" seinen Platz fand.

Abgesehen vom komödiantischen Aspekt wird die Vergewaltigung von Männern in Filmen auch gerne als Standardbestrafungswunsch seitens der Polizei oder als Druckinstrument gegen einen Verdächtigen genutzt. (Der Themenbereich "was genau ist Vergewaltigung" wird hier auf Grund seiner Komplexität einmal ausgeklammert - ich beziehe mich hier also nur auf eine Penetration, die mit Gewalt ausgeübt wird.)

Nun sind Filme und Realität verschieden, dennoch wird die Vergewaltigung von Männern als Rachewunsch oft geäußert, während selbst brutal agierenden Frauen dies nicht widerfährt. Hier zeigt sich, wie unterschiedlich Vergewaltigung bewertet wird und wie viel noch daran zu arbeiten wäre, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung per se als etwas anzusehen, was weder komisch noch wünschenswert ist.

Was aber in Filmen oft auch dargestellt und nun im Zuge einer Diskussion sogar gefordert wird, ist, dass jemandem, der eine Vergewaltigung meldet oder anzeigt, automatisch geglaubt werden soll. Hierbei offenbart schon die Sprache das Problem: Es soll nicht um Wissen oder Erfahrung gehen, sondern um Überzeugungen, um (den) Glauben.

Dabei wäre das automatische "Glauben" an eine erfolgte Vergewaltigung für die ermittelnden Stellen eher ungünstig, müssten sie dann doch einseitig und vorbelastet in die Ermittlungstätigkeit herangehen, was ihren Blick unter Umständen vernebeln könnte. Indizien könnten so statt als ent- als belastend angesehen oder gar Beweise übersehen werden.

Wenn jetzt argumentiert wird, dass es ja nicht darum geht, keine Beweise zu sammeln, sondern den- oder diejenigen, die eine Anzeige erstatten bzw. etwas melden, ernstzunehmen, dann ist dies richtig. Aber eben darum sollte es gehen: Um ein Ernstnehmen - nicht um den Glauben daran, dass der oder die andere die Wahrheit spricht.

Auch ohne jemandem, der weinend und mit blutigen Lippen zu mir kommt, automatisch seine Version der vergangenen Geschehnisse zu glauben, ist es möglich, diese Person ernst zu nehmen und als Polizist den Sachverhalt so genau wie möglich aufzunehmen. Dies beinhaltet auch Fragen, die ggf. für den Anzeigeerstattenden bzw. Meldenden nicht angenehm sind. Diese sind jedoch notwendig, um den Fall so genau wie möglich klären zu können und somit auch Fehlurteile in jeder Richtung zu vermeiden. Die Bewertung, ob der Fall sich so zugetragen hat wie erzählt wird, muss jedoch später vor Gericht erfolgen und hat bei den Ermittlungen, die genau dies ja zutage fördern sollen, außen vor zu bleiben. Es gilt, den Anschuldigungen nachzugehen, ohne Partei zu ergreifen.

Wenn Zerlina Maxwell in ihrem Kommentar zum "Jackie-"-Fall nunmehr anmerkt, dieser Fall werde dazu führen, dass Menschen fordern, es solle ein "unschuldig bis zum Gegenbeweis" gelten (was jedoch falsch wäre), dann setzt sie diese Möglichkeit der neutralen Untersuchung außer Kraft und rüttelt somit an den Standfesten des Rechtstaates. (Anmerkung, 16.12, 10.35 Uhr: Dieser Absatz ist missverständlich geschrieben. Frau Maxwell geht davon aus, dass Menschen die Anwendung der Unschuldsvermutung fordern werden, was ihrer Meinung nach jedoch falsch wäre. Wörtlich schreibt sie: "Many people (not least U-Va. administrators) will be tempted to see this as a reminder that officials, reporters and the general public should hear both sides of the story and collect all the evidence before coming to a conclusion in rape cases. This is what we mean in America when we say someone is “innocent until proven guilty.” After all, look what happened to the Duke lacrosse players. In important ways, this is wrong. We should believe, as a matter of default, what an accuser says." Sinngemäß und verkürzt: Viele Leuten werden jetzt dazu verleitet werden, wieder Unschuldsvermutung zu fordern bzw. zu fordern, dass beide Seiten angehört werden bevor ein Urteil im nichtjuristischen Sinne gefällt wird. Doch dies ist falsch. Wir sollten das glauben, was der Beschuldigende sagt.)

Zynisch merkt Frau Maxwell an, dass ja unschuldig verdächtigte Menschen nicht allzuviel zu befürchten hätten:

"Der Verdächtige würde eine unschön/raue Zeit erleben. Vielleicht wird er vom Dienst suspendiert/vorübergehend freigestellt, Freunde bei Facebook werden ihn ggf. von ihrer Freundesliste streichen. Im Falle Bill Cosbys müssen wir vielleicht damit aufhören, seine Shows zu sehen, seine Bücher zu lesen oder Tickets für seine Stand-Up-Comedy zu kaufen. Aber Falschbeschuldigungen sind äußerst selten und Fehler können auch ungeschehen gemacht werden - durch Ermittlungen, die den Verdächtigen vom Verdacht freisprechen. Dies gilt gerade dann, wenn die Ermittlungen schnell vonstatten gehen."

Hierbei unterschlägt sie, dass (nicht zuletzt, weil sexuelle Straftaten als besonders unentschuldbar gelten) die Konsequenzen einer solchen falschen Anschuldigung weitaus schlimmer sind: Familien und Bekannte distanzieren sich, gerade bei männlichen Verdächtigen halten sich Frauen fern, Arbeitgeber sprechen Kündigungen aus oder finden Alibigründe hierfür.

Man mag es als Lappalie sehen, wenn einem Prominenten Werbeverträge entgehen, doch abseits des darin auch enthaltenen Neides ist es für diese Menschen nun einmal ihr Einkommen: Je mehr Menschen sich abwenden, desto geringer das Einkommen. Streicht man diesen Prominentenaspekt aus der Gleichung heraus, dann sagt Frau Maxwell nichts anderes als "ist doch egal, wer hier durch Falschbeschuldigungen sein Ein- und Auskommen verliert". Hinzu kommt, dass für den Beschuldigten das Leben nach einer Falschbeschuldigung oder einem Freispruch keineswegs einfach weitergeht - das Stigma des Vergewaltigers haftet weiter.

Frau Maxwell argumentiert weiter, dass es für vergewaltigte Frauen (im Artikel geht es nur um Frauen als Opfer) traumatisch wäre, würde ihnen nicht geglaubt werden. "Wenn eine Frau sich traut zu offenbaren, dass sie sexuell genötigt/vergewaltigt wurde, dann erfordern Statistiken und unsere Empathie, dass wir dieser Frau glauben und sie unterstützen" zitiert sie Jaclyn Friedmann, Autorin von “Yes Means Yes!: Visions of Female Sexual Power and a World Without Rape”. Dabei wird von beiden Protagonistinnen nicht einmal in Erwägung gezogen, dass es möglich wäre, jemanden zu unterstützen und ernstzunehmen, ohne alles, was er sagt, als Fakt anzusehen, insbesondere wenn ich zu den ermittelnden Behörden gehöre?

Doch selbst wenn ich nur als Privatperson agiere, stellt sich die Frage, wie schnell ich jemanden vorverurteilen will und sollte. Wichtig ist hierbei stets im Auge zu behalten, dass eine falsche Anschuldigung schnell erhoben ist - egal welche Straftat es betrifft. Letztendlich kann dies also jeden treffen und jeder dürfte sich wünschen, in einem solchen Moment von Menschen umgeben zu sein, die die "unschuldig bis zum Gegenbeweis"-Maxime noch achten.

Es wäre tatsächlich an der Zeit, eine "Rape Culture" zu begründen. Eine Kultur, die Vergewaltigung als verwerflich ansieht, egal an wem verübt und durch wen. Aber auch eine Kultur, die trotz allem den Rechtstaat hochhält und von Vorverurteilungen absieht – die eine Meldung wie "xy der Vergewaltigung bezichtigt" eben als solche Meldung ansieht und nicht automatisch mit den eigenen Vorurteilungen gegenüber (meist männlichen) Personen verknüpft und so dann (weil eben "geglaubt wird", dass an den Anschuldigungen etwas dran sein muss) der Beschuldigte ab dem Moment der Anschuldigung bereits, zum Schuldigen mutiert. Wenn nicht vor Gericht, so doch in der öffentlichen Wahrnehmung, "Unschuldig bis zum Gegenbeweis" sollte auch bei Straftaten im sexuellen Bereich gelten, wenn nicht der Rechtstaat vor lauter falsch verstandener Empathie begraben werden soll.

Für die Cineasten unter den Lesern seien in diesem Kontext zwei Filme empfohlen: "One Day a Lemming will fly" aus der Serie "Crackers (Für alle Fälle Fitz)" sowie "Die Jagd" mit Mads Mikkelsen. Für weniger cineastisch interessierte Menschen sei bezüglich der Falschanschuldigungen oder vorschneller Urteile auf den Fall "Horst Arnold" verwiesen.

Update, 17.12.2014: In Bezug auf die Vergewaltigung von Männern in bundesdeutschen Gefängnissen sind u.a. diese Artikel zu erwähnen:

http://www.zeit.de/2012/34/DOS-Gefaengnisse-Deutschland-Gewalt

http://www.dw.de/gewalt-in-deutschen-gef%C3%A4ngnissen/a-16367875

Seit der Studie _soll_ sich einiges verändert haben, eine aktuelle Studie liegt nicht vor. Bei dem Thema Vergewaltigung in Gefängnissen gibt es auch das Problem des geringen Anzeigeverhaltens - aus Angst und Scham schweigen viele Opfer, so dass die Dunkelziffer hoch angesetzt wird, wie es auch bei der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung per se der Fall ist.

Da kritisiert wurde, dass die Frage, wie mit Freigesprochenen und mit Frauen, bei denen der Täter freigesprochen wurde, umzugehen wäre, nicht angesprochen wurde, möchte ich darauf hinweisen, dass dieser Artikel Teil einer Reihe von Blogbeiträgen ist, was jedoch von mir nicht hinreichend deutlich gemacht wurde, wofür ich um Entschuldigung bitte. Weitere Teile werden sich mit der Rolle der Medien, mit der geplanten Gesetzesverschärfung, mit den Verurteilungsquoten und der Problematik der überlasteten Ermittlungsbehörden, die bei den Verurteilungsquoten eine Rolle spielt, befassen.