Andrea Nahles und Uber

Außer Kontrolle

Die heuchlerische Kritik an neuen Nutznießern alter Regelungen

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In einem vor kurzen in der Süddeutschen Zeitung abgedruckten Gastbeitrag wurde die Agenda 2010, die von vielen Menschen vor allem mit der Einführung der ALG II-Gesetzgebung in Verbindung gebracht wird, ausdrücklich gelobt:

"Dass aber die Reformen der Agenda 2010 einen großen Anteil an der erfolgreichen Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit hatten, ist unbestreitbar." liest man dort. "Die Hartz-Reformen zielten neben der Verbesserung der Arbeitsvermittlung vor allem auf die Etablierung neuer Beschäftigungsformen, die Normalarbeitsverhältnisse nicht ersetzen, sondern ergänzen sollten. Genau diese Entwicklung prägt heute die wirtschaftliche Dynamik im Land."

In diesem Tenor geht der Text weiter: Die Agenda 2010 habe gezeigt, dass die Sozialsysteme zukunftfähig wären, würden sie politisch aktiv gestaltet bevor sie die "kalte Hand regelloser Märkte" zerstört: "Die Hartz-Reformen […].vermitteln uns Zuversicht, dass Deutschland es schaffen kann, wenn wir entschlossen handeln."

Die Verfasser dieser Lobpreisung sind die derzeitige Arbeitsministerin Andrea Nahles und der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel.

Weder Frau Nahles noch Sigmar Gabriel verlieren viele Worte, was die Wirkung der Erzeugung des Niedriglohnsektors angeht, den Gerhard Schröder einst in Davos so begeistert anpries. Auch, dass viele ALG II-Bezieher durch die salopp ausgeführte Ich-AG-Regelung in die Selbständigkeit schlidderten, weil ihnen dies allzu leicht gemacht wurde, bleibt außen vor - obgleich dies in Bezug auf die Krankenversicherungsleistungen durchaus nicht unwichtig ist.

Dass die Sanktionspraxis keine Erwähnung findet, überrascht nicht. Dass sich durch prekäre Arbeitsverhältnisse immer weniger Menschen vernünftig sozial absichern können, findet sich ebenso wenig in dem Beitrag der beiden SPDler. Und dass die durchaus arbeitgeberfreundliche Steuergesetzgebung Günstiglöhne weiterhin ermöglicht, bleibt ebenso ungeschrieben.

Um so erstaunlicher ist es, dass diese beiden Aspekte die zentralen Punkte von Andrea Nahles' aktueller Kritik am Transportvermittlungsunternehmen Uber sind. Als hätte die Steuergesetzgebung (die es Uber ermöglicht, die Steuersparmodelle anzuwenden) mit der Politik nichts zu tun, stellt Frau Nahles es als verwerflich dar, Steuern einzusparen - und erinnert damit an Kurt Becks Kritik an ALG II-Beziehern, die "alles mitnehmen, was geht".

Nun mag der eine oder andere noch der Meinung sein, Unternehmen hätten auch eine Fürsorgepflicht oder es gäbe immer noch die "Eigentum-verpflichtet"-Denkweise - doch von dieser haben sich viele Unternehmen (aber auch Einzelpersonen) längst abgewandt. Millionenverdiener gehen in das steuergünstige Ausland, Firmen werden ausgelagert oder Tochterfirmen gegründet, die es möglich machen, Arbeitsbedingungsregelungen zu unterlaufen ...

Es ist vielsagend, dass sich die Kritik an Arbeitsbedingungen, Steuersparmodellen und Löhnen derzeit fast ausschließlich an zwei us-amerikanischen Firmen festmacht - nämlich Uber und Amazon. Hier wäre ein Blick auf die Entwicklung bei deutschen Unternehmen sinnvoll - anstatt die rosarote Brille aufzusetzen und die Agenda 2010 zu loben.