Homo Granularis

Christoph Kucklick zeigt, was präzise Datenanalysen mit uns und unserer Lebenswelt gemacht haben und vor welchen gesellschaftlichen Herausforderungen wir stehen.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Ulrike Weichert

Christoph Kucklick zeigt, was präzise Datenanalysen mit uns und unserer Lebenswelt gemacht haben und vor welchen gesellschaftlichen Herausforderungen wir stehen.

Früher verschwand der Mensch in der Masse. Nun verschwindet die Masse hinter dem Menschen. Denn die Datenerhebungen des digitalen Zeitalters haben die Gesellschaft unter das Mikroskop gelegt. Hochaufgelöst stellt sie sich nun dar. Jeder Einzelne steht für sich, unverwechselbar und feinkörnig vereinzelt – wie ein Granulat. Was das für den Menschen und für die "granulare Gesellschaft" bedeutet, veranschaulicht der "Geo"-Chefredakteur Christoph Kucklick anhand von Beispielen unserer gegenwärtigen und zukünftigen Lebenswelt – von Versicherungen und Unternehmen bis hin zu Wahlkämpfen und dem Straßenverkehr. Kucklick sieht den Wandel zur digitalen Kultur nicht allein in der Vernetzung, der Datenmenge, der Überlegenheit von Maschinen oder im Kontrollwahn begründet.

Ohne dass ein einzelner Akteur dafür verantwortlich sei, habe es drei Revolutionen gegeben, die alle in der "Granularität" münden: Erstens die "Differenz-Revolution", die bislang verborgene Unterschiede unter den Menschen hervorhebt. Zweitens die "Intelligenz-Revolution", die Menschen mit smarten Maschinen konkurrieren lässt. Und drittens die "Kontroll-Revolution", die präzise Vorhersagen über das Verhalten der Menschen ermöglicht. Kucklick präsentiert sehr pointiert und mit klarer Sprache Lebensbereiche, die sich durch die neue Hochauflösung bereits gewandelt haben.

So zeigt er anhand Barack Obamas Wahlkampf von 2012, wie demokratische Prinzipien durch die "neue Auflösung" unterwandert werden: Die Demokraten werteten bis zu 20.000 Datenpunkte von knapp 170 Millionen Wählern aus und sendeten unterschiedlichen Wählern unterschiedliche Botschaften. Auch Patienten der granularen Gesellschaft erhalten maßgeschneiderte Informationen. Da jeder Körper detailliert in seiner Einzigartigkeit erfasst werden kann, können Diagnosen nicht mehr auf der Basis von Durchschnittswerten gemacht werden.

Aber nicht nur die Medizin, sondern auch Institutionen wie Justiz, Politik, Bildung und Wissenschaft müssen ihre Rolle neu definieren. Dabei stellt Kucklick sich in die Rolle des soziologischen Beobachters und gibt dem Leser Raum, die "granulare Gesellschaft" bewundern oder fürchten zu können. Er stellt keine eigene Theorie auf, sondern präsentiert Beispiele, aus denen sich gesellschaftliche wie persönliche Herausforderungen ableiten: Wie gelingt es, eine stabile Ordnung aufzubauen? Was ist Gerechtigkeit? Wer sind die neuen Autoritäten?

Vor allem stellt Kucklick die Frage: Wer ist der granulare Mensch? Seine Antwort: Je stärker der Mensch mit den digitalen Maschinen interagiert und mit ihnen konkurriert, desto überraschender und irritierender werde er sich aufführen. Der Homo granularis versteht sich als unberechenbarer Störenfried, der maschinelle und gesellschaftliche Algorithmen unterwandert.

Christoph Kucklick: "Die granulare Gesellschaft – Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst", Ullstein, 272 Seiten, 18 Euro (bsc)