Und was sagt das "Opfer"?

Außer Kontrolle

US-Vizepräsident Bidens "Grabsch-Gate": Warum nachfragen, wenn sich trefflich spekulieren lässt

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Amtseinführungen sind in den USA zwar recht pathetisch, aber auch eher langweilig. Ashton Carters Amtseinführung bot diesmal zumindest etwas für die Medien, denn der anwesende Vizepräsident Joe Biden sorgte für Quoten. Während der Amtseinführung winkte er Ashton Carters Frau Stephanie zu sich, legte ihr dann die Hände auf die Schultern, senkte den Kopf und, bevor Ashton Carter selbst seiner Frau die Hand auf die Schulter legte, strich mit den Händen an ihren bloßen Armen entlang.

Die Reaktion der Medien war eindeutig: "Biden geht auf Tuchfühlung", "US-Vize begrapscht die Frau des neuen Ministers", "Grabsch-Gate" und ähnliche griffige Benennungen und Überschriften finden sich zuhauf. "Ob er ihr lediglich etwas zuflüsterte oder ihr gar einen Kuss ins Ohr hauchte - das wird aus dem Video nicht klar." raunt Spiegel Online. Die Reaktionen in den Foren sind dementsprechend, denn die Situation scheint klar: alter Mann begrabscht junge Frau, die sich "sichtlich unwohl fühlt", wie die Medien ferndiagnostizieren.

Nun ist Joe Biden dafür bekannt, dass er gerade auch bei jüngeren Damen seine Sympathie sehr direkt bekundet, freundlich ausgedrückt. Das lässt sich durchaus im Themenbereich "sexuelle Belästigung" diskutieren, jedoch wäre es beim "Grabsch-Gate" sinnvoll gewesen, sich zumindest das gesamte Video des Vorfalls anzuschauen. So hat CNN beispielsweise dieses Video zur Verfügung gestellt und zumindest in Erwägung gezogen, dass Joe Biden, der seit Jahren mit dem Ehepaar Carter bekannt ist, der nunmehr im Rampenlicht stehenden Stephanie Carter ein paar unterstützende Worte zuflüsterte und ihr ebenso unterstützend die Hände auf die Schultern legte. Frau Carters Reaktion wird hier weniger als "sich sichtlich unwohl fühlend", denn als zustimmend zu dem, was Joe Biden gesagt hat, bezeichnet.

Was nun tatsächlich gesagt wurde ist nicht bekannt, doch interessant ist die Argumentation in Bezug auf Stephanie Carter. Ihr wird per Ferndiagnose bereits unterstellt, dass sie sich unwohl fühlte, was Joe Bidens Verhalten anging, gefragt wird sie jedoch nicht. In einem Forum wurde die Meinung vertreten, dass, selbst wenn Stephanie Carter sagen würde, sie hätte das Verhalten als tröstend empfunden, nicht auszuschließen wäre, dass sie dies nur wegen des politischen Drucks sagen würde.

Diese Logik lässt sich in einem einfachen Satz zusammenfassen: Wenn sich Stephanie Carter nicht opfergemäß artikuliert, dann steht sie unter Druck. Geglaubt wird ihr somit nur, wenn sie die Erwartung erfüllt, Joe Bidens Aktion als unangemessen, störend oder belästigend empfunden zu haben. Dies kommt im Endeffekt einer Entmündigung des "Opfers" gleich, da es letztendlich nur noch als körperlicher Beweis für die eigenen Annahmen fungiert, nicht jedoch als selbst denkendes, agierendes und bewertendes Wesen.

Diese Argumentation (bzw. Denkweise) ist nicht neu. Sie findet sich sowohl bei fast schon fanatisch agierenden *Schutzverbänden wieder, die bestimmten Opfern das Opferdasein absprechen, wenn diese nicht opfertypisch agieren, als auch in Diskussionen im Bereich "sexuelle Belästigung/Nötigung/Vergewaltigung" allgemein.

Erst kürzlich wurde gemutmaßt, dass die Reinigungskraft, die von einem KFZ-Meister ohne ihre Einwilligung am Busen berührt wurde, nur deshalb auf eine strafrechtliche Verfolgung des Vorfalls verzichtete, weil sie einen anstrengenden und demütigenden Prozess vermeiden wollte . "Kann dies denn ausgeschlossen werden?" lautete die Argumentation, die sich auch bei Telepolis im Forum wiederfand (Der falsche Link wurde korrigiert.)

Dabei wäre die Frage auch, ob denn ausgeschlossen werden kann, dass es sich anders verhält. Da die Reinigungskraft sich dazu nicht äußerte, bleiben beide Vermutungen eben das: Vermutungen. Weder die Reinigungskraft noch Frau Carter werden kontaktiert oder gefragt bzw. äußern sich hierzu, aber sie dienen der Projektion der eigenen Überzeugung.

Dabei wird in den Diskussionen stets auch angemerkt, dass nur das Opfer selbst letztendlich sagen kann, ob es etwas als sexuelle Belästigung empfand oder nicht. Doch die Art und Weise, wie über die Frauen hinweg entschieden wird, dass sie als Opfer mitsamt der opfertypischen Ansichten zu betrachten sind, macht sie letztendlich zu Opfern einer dogmatischen Ansicht. Wenn es darum gehen soll, Menschen als eigenständige Wesen mit eigenständigen Ansichten zu betrachten, dann dürfen ihnen Ansichten nicht einfach "übergestülpt" werden, als wären sie unmündig.

Bei der medialen Betrachtung von Vorkommnissen wäre es daher auch sinnvoll, Vorfälle nicht nur einseitig zu betrachten und in den Skandal-Tenor einzustimmen, sondern insbesondere auch einmal die "Opfer" zu Wort kommen zu lassen oder ihre Handlungen neutral zu betrachten, statt sie einseitig in die bereits geöffneten Ansichten-Schubladen zu legen.