Liefert Venezuela befreundeten Staaten weniger Erdöl?

Kurzbericht der britischen Investmentbank Barclays beruft sich auf Beobachtung von Tankerfahrten

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Die Wirtschaftskrise in Venezuela beeinträchtigt einem Bericht der britischen Investmentbank Barclays zufolge zunehmend preisgünstige Erdöllieferungen an Staaten Lateinamerikas und der Karibik. Demnach sollen die Zuwendungen an Kuba und weitere Mitgliedsländer des energiepolitischen Bündnisses Petrocaribe seit dem vergangenen Jahr massiv zurückgefahren worden seien. Der Bericht fand in US-amerikanischen und lateinamerikanischen Medien breiten Widerhall, wenngleich es aus Venezuela keine Bestätigung gibt und die Zahlen auf dünner Faktenbasis beruhen.

Erstellt wurde die fünfseitige Kurzstudie mit dem Titel "Reducing Generosity" von den beiden Analytikern Alejandro Arreaza und Alejandro Grisanti, die in Caracas tätig sind. Nach ihren Erkenntnissen hat Venezuela unter dem Eindruck der wirtschaftlichen und politischen Krise in dem südamerikanischen Land die Erdölexporte in die Petrocaribe-Staaten seit 2012 um die Hälfte gekürzt. Damals seien täglich noch rund 400.000 Barrel (ein Barrel entspricht 159 Litern) venezolanischen Erdöls zu Vorzugskonditionen in die Länder der Region exportiert worden. Zuletzt seien es gerade einmal 200.000 Barrel pro Tag gewesen. Die Autoren sehen diesen vermeintlichen Lieferrückgang als Indiz für die politischen Auswirkungen der Krise in Venezuela.

Diese Interpretation beruht auch auf der Geschichte des Petrocaribe-Bündnisses. Die Allianz war Mitte 2005 im ostvenezolanischen Puerto La Cruz vom damaligen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez ins Leben gerufen worden. Chávez' Intention war, anderen Staaten Lateinamerikas und der Karibik venezolanisches Erdöl zu Vorzugspreisen zur Verfügung zu stellen, um den Empfängerstaaten so die Möglichkeit zu bieten, eine eigene Infrastruktur im Energiesektor aufzubauen: Raffinerien, Lagerstätten, Pipelines und Kraftwerke. Das mittelfristige Ziel bestand darin, den preistreibenden Zwischenhandel auszuschalten und unabhängiger von Erdölprodukten aus den USA zu werden. Die venezolanische Opposition und Interessenvertreter der Erdölindustrie übten von Beginn an heftige Kritik an dem Bündnis. Vor allem venezolanische Regierungskritiker vertraten die These, die Chávez-Regierung würde das Erdöl des Landes verschenken.

In diese Kerbe schlägt nun auch der Bericht von Barclays. Es sei "ironisch", dass Venezuela weiterhin an den Erdölexporten zu Vorzugspreisen festhalte, obgleich das Land Probleme mit der eigenen Versorgung habe. Dennoch liefere Venezuela im Rahmen der Petrocaribe-Verträge weiterhin rund 200.000 Barrel pro Tag, von denen die regionalen Empfängerstaaten die Hälfte zahlen – wenn gewünscht erst nach zwei Jahren und mit einem Zinssatz von maximal zwei Prozent. Der Restbetrag wird in Produkten wie Fleisch, Bohnen oder Reis vergütet. Eine Sonderstellung hat Kuba, das in großem Maße Ärzte, Pflegekräfte und Pädagogen nach Venezuela entsandte. Diese Dienstleistungen wurden mit den Erdöllieferungen verrechnet. "Solidarischer Handel" heißt das in Venezuela: Jeder bringt das ein, was ihm zur Verfügung steht.

Laut Barclays schwindet eben diese Solidarität. Kuba, das zeitweise über 100.000 Barrel venezolanischen Erdöls erhielt, habe zuletzt gerade einmal 55.000 Barrel pro Tag in Empfang genommen. Die Dominikanische Republik müsse mit 56 Prozent weniger Erdöl auskommen, Jamaika gar mit 72 Prozent weniger. Die Autoren korrigierten angesichts dieses angenommenen Exportrückgangs ihre Prognose für das zu erwartende Devisendefizit Venezuelas von 30 Milliarden US-Dollar auf 22,6 Milliarden US-Dollar.

Unklar bleibt allerdings, wie verlässlich die Zahlen sind. Die Autoren der Studie haben keine offiziellen Daten zur Hand. Zuletzt hatte der damalige venezolanische Erdölminister Rafael Ramírez im Februar 2014 bei einem Treffen mit kubanischen Vertretern von einem Lieferrückgang an Kuba zwischen 23 und 32 Prozent gesprochen. Darüber berichtete damals unter anderem die regierungskritische Tageszeitung El Nacional. Weitere Zahlen von Seiten der Regierung oder des staatlichen Erdölkonzerns Pdvsa gibt es jedoch nicht. Arreaza und Grisanti argumentieren lediglich mit Erhebungen der Firma Petrologistics, die, wie es im Paper heißt, "Öltanker auf der ganzen Welt erfasst".