Die Logik der Gewalt

Lassen sich gewaltsame Auseinandersetzungen vorhersagen? Forscher gehen davon aus und entwickeln dafür Big-Data-Analyse-Tools. Doch die Aufgabe ist deutlich komplexer, als Staus zu prognostizieren.

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Von
  • Chris Löwer

Lassen sich gewaltsame Auseinandersetzungen vorhersagen? Forscher gehen davon aus und entwickeln dafür Big-Data-Analyse-Tools. Doch die Aufgabe ist deutlich komplexer, als Staus zu prognostizieren.

"Und nun zur Kriegsvorhersage..." Geht es nach dem International Peace Institute, wird es bald möglich sein, gewalttätige Konflikte mit den Werkzeugen der Big-Data-Analyse zu prognostizieren. Zumindest mit Wahrscheinlichkeiten, die dem Wetterbericht ähneln. Der "Arabische Frühling" etwa wäre anhand der Auswertung sozialer Medien wie Twitter, Google+ oder Facebook vorhersehbar gewesen, schreibt zumindest Francesco Mancini, Autor der Studie des Instituts.

Das wäre ein riesiger Fortschritt, denn Konfliktforscher und Politologen stochern allzu oft im Nebel: Kein Nahostexperte hatte die anfangs mächtige Emanzipationswelle auf dem Radar. Zu sehr richtet sich ihr Blick auf bereits eingetretene Ereignisse, aus denen sie glauben, Künftiges ableiten zu können. Nur halten sich komplexe politische Prozesse mit vielen Akteuren und mitunter heftiger Eigendynamik selten daran. Kann das Big Data besser?

Karsten Donnay von der ETH Zürich geht davon aus. Der Krisenforscher beschäftigt sich mit der Modellierung und Simulation gesellschaftlicher Prozesse und bedient sich dabei zweier Datenquellen: Medienberichte und Social Media. "Sie sind ein Sensor für Spannungen", sagt Donnay. Aus den riesigen Datensätzen gilt es, per computerbasierter Textanalyse Stimmungen anhand des Tonfalls, von Begriffen und Veränderungen der Berichte herauszudestillieren, die auf einen heraufziehenden Konflikt deuten.

"Kriege entstehen nicht aus dem Nichts", sagt auch Thomas Chadefaux, der am Institut für Politikwissenschaften des Trinity College Dublin forscht. Sein Ansatz: Zunächst legte er Signalwörter fest, typische Wörter, die auf Spannungen deuten, wie Konflikt, Krise, Auseinandersetzung, Unruhen, Streit, Zwietracht und ähnliches. Danach durchforstete Chadefaux' Big-Data-Tool die Berichte von 1900 bis 2011 aus dem Google-News-Archiv sowie Social-Media-Daten und detektierte, in welchen Ländern diese vermehrt auftreten. Häufen sich die Schlagwörter binnen einer Woche, leitet das Programm daraus eine erhöhte Spannung ab. Und je öfter es zu ungewöhnlichen Abweichungen kommt, desto wahrscheinlicher ist ein gewaltsamer Konflikt.

Tatsächlich zeigt sich, dass zwischenstaatliche Kriege bis zu einem Jahr vor ihrem Ausbruch vorhersagbar sind. Mit einer Genauigkeit von bis zu 85 Prozent, so Chadefaux, konnte seine Analyse von mehr als 60 Millionen Zeitungsseiten den Ausbruch von rund 200 Konflikten seit 1900 prognostizieren, unter anderem in Armenien, Iran, Irak, Eritrea oder Jugoslawien. Kleiner Haken: Bislang gelang dies nur in der Rückschau. Als Frühwarnsystem muss das Tool seine Qualitäten noch beweisen.

Sehr viel stärker als Chadefaux setzt Kalev Leetaru von der Georgetown University auf, wie er sagt, "schwache Signale". Etwa wenn sich plötzlich neue Ideen und andere Meinungen verbreiten, sich gleichartige Ereignisse wie Versammlungen häufen oder sich, wie das 2011 in Ägypten und Tunesien der Fall war, schlagartig viele Nutzer bei Twitter und Facebook anmelden. Die Software erkennt, "wer was wo mit wem getan hat", erklärt Leetaru. Es werden Zusammenhänge wie "Demonstranten wurden von Regierungstruppen festgenommen" erfasst.

Auch Leetaru untersucht die Tonlage von Zeitungsartikeln: Im Projekt Global Database of Events, Language and Tone (GDELT) beobachtet er automatisiert die weltweite Berichterstattung in Print, Radio und Online. Im Fall der "Arabellion" beispielsweise griff er auf Berichte ab 1979 zurück, um eine Vergleichsbasis zu haben. Er visualisierte das Stimmungsbarometer mit Kurven, die Börsenkursen ähneln. Ein heftiger Einbruch erfolgte Mitte Januar 2011 – tatsächlich begannen am 25. Januar die Proteste aufgebrachter Ägypter. Er hofft, daraus ein globales Werkzeug entwickeln zu können. Würde man derartige Stimmungskurven von verschiedenen Ländern erstellen, ließen sie sich mit aktuellen Entwicklungen abgleichen. Drohende Auseinandersetzungen wären erkennbar – denn in diesem Sinne wiederholt sich Geschichte durchaus, meint Leetaru. So ähnelt etwa der Stimmungseinbruch in Ägypten unter anderem dem, der sich bei den Unruhen in Afghanistan zwischen dem 1. Januar und 2. März 1979 zeigte.

So sehr er an das Konzept glaubt, so selbstkritisch ist er: "Alle bisherigen Ansätze sind notorisch schwach, auch weil sie sich immer auf den Rückblick verlegen." Außerdem steht man bei der Analyse von Tweets vor der Schwierigkeit, dass oft erst getwittert wird, wenn schon etwas passiert ist. Auch der Ansatz, massenhaft die Berichterstattung auszuwerten, scheint noch unfertig. Er basiert auf Artikeln einer freien Presse, die es gerade in den Konfliktherden despotischer Staaten schwer hat. Was dort erfasst wird, dürfte wenig neutral sein. Wolfgang Schneider, Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung am Hamburger Institut für Politikwissenschaft, meldet weitere Zweifel an: "Ob eine Zeitungsdatenbank wie Google-News-Archiv auch für innerstaatliche Kriege nutzbar ist, müsste erst noch getestet werden. Denn die internationale Presse interessiert sich dafür meist erst ab einem gewissen Eskalationsniveau."

Hinzu kommt eine gewisse Eigendynamik: Wenn ein Tool von einer hohen Wahrscheinlichkeit eines Krieges ausgeht und das von den Medien aufgegriffen wird, beeinflusst das auch die Datenanalyse. Die Folge wäre ein sich selbst beeinflussendes System. Auf jeden Fall wäre es eine sehr dürre Datenlage, um über Fragen von Krieg und Frieden zu entscheiden.

Sinn würde ein solches Tool dennoch machen: Wenn es in vorbeugenden Maßnahmen – mehr Diplomatie, internationale Beobachter, Wirtschaftshilfe oder Friedenstruppen – münden würde. Außerdem plädieren die Forscher an der ETH Zürich dafür, solche Prognosen allein durch neutrale Big-Data-Wissenschaftler erstellen zu lassen, weil Geheimdienste, Despoten und autoritäre Regimes ganz andere Schlüsse ziehen und mit der Kraft der Datenanalyse gegen die eigene Bevölkerung vorgehen könnten.

"Diese Gefahr gilt allerdings für alle politischen Risikoanalysen und ist nicht spezifisch für Big Data", sagt Donnay. Er blickt daher optimistisch in die Zukunft. Es gebe bei allen Aspekten zwar noch viel Verbesserungsbedarf. "Aber die Forschung ist auf einem guten Weg, zumal wir immer besser die Mechanismen verstehen, wie Konflikte entstehen." Und wenn diese Theorien und Modelle über Konfliktauslöser mit den Hinweisen aus der Datenanalyse verbunden werden, können Risikofaktoren besser erkannt und Prognosen präziser sein als heute. (bsc)