Einen Schritt voraus

Per Datenauswertung will die Polizei Straftaten in der Zukunft vorhersagen – Predictive Policing heißt das Zauberwort. Kriminalbeamte sind angetan, Datenschützer alarmiert.

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Von
  • Eva-Maria Hommel

Per Datenauswertung will die Polizei Straftaten in der Zukunft vorhersagen – Predictive Policing heißt das Zauberwort. Kriminalbeamte sind angetan, Datenschützer alarmiert.

Im Münchner Nordwesten herrscht in einigen Straßen Alarm. In eine der Wohnungen dort wird wahrscheinlich bald eingebrochen. Der Mann, der das so genau weiß, heißt Günter Okon. Er ist das Orakel des Bayerischen Landeskriminalamtes. Und ebenso wie das echte in Delphi nährt sich sein Wissen aus einer für viele geheimnisvollen Quelle: Algorithmen, prozessiert in Computern, verdichtet zu Vorhersagen. Auf seinem Bildschirm sieht Okon einen Stadtplan, in den rot gefärbten Straßen ist laut Analyse die Wahrscheinlichkeit für ein Delikt erhöht. Deshalb fahren dort jetzt mehr Streifen als sonst.

"Precobs" heißt das Programm, mit dem Bayerns Polizei Diebe stellen und Straftaten verhindern will. Aus Einbruchsdaten schließt es, wo Täter bald wieder zuschlagen werden. In den USA ist eine ähnliche Software, "PredPol", bereits im Einsatz, unter anderem in Atlanta sowie in Los Angeles und weiteren kalifornischen Städten. In Zürich meldete die Stadtpolizei 2014 bereits erste Erfolge: Im Vergleich zum Vorjahr sei in den von der Software abgedeckten Gebieten die Zahl der Einbrüche um mehr als 30 Prozent gesunken. In den übrigen Gebieten seien es nur knapp 15 Prozent gewesen. Die deutsche Variante wird seit Oktober 2014 in München und Mittelfranken getestet. Je nach Ergebnis will das bayerische Innenministerium entscheiden, ob Precobs bald zur Polizeiausstattung gehören soll wie Handschellen und Funkgeräte.

Kritiker wie Datenschutz-Aktivist Matthias Monroy befürchten aber, dass solche Prognosetechnologien den Datenhunger der Ermittler bald ins Unermessliche wachsen lassen. Denn die im "Institut für musterbasierte Prognosetechnik" (IfmPt) in Oberhausen entwickelte Precobs-Software kann nur durch den Abgleich von alten Daten – die dazu eben auch vorliegen müssen – Muster erkennen. Dazu gehört auch, wie sich professionelle Wiederholungstäter bewegen. Einbrecher, so zeigt die langjährige Erfahrung von Ermittlern, kommen oft wieder, wenn sie in einem Stadtviertel erfolgreich waren. Obwohl die Bewohner durch die erste Tat alarmiert sind, bewerten die Diebe offenbar ihr Wissen über die Gegend höher. Sie merken sich zum Beispiel, wo es keine Alarmanlagen gibt oder gut erreichbare Terrassentüren.

So waren zum Beispiel ein Drittel der Wohnungseinbrüche im Kanton Bern 2007 und 2008 Wiederholungstaten. Laut der Software-Firma IfmPt sei das Risiko binnen 72 Stunden am höchsten. Geplante Delikte wie Einbruch oder Autodiebstahl könne man daher recht gut voraussagen. Gegen Mord oder Totschlag aus dem Affekt ist die Software dagegen machtlos.

Jeden Morgen werden Falldaten vom Vortag in das System eingespeist, um die historischen Daten zu ergänzen. Die Programmierer vom IfmPt haben zudem errechnet, in welchen Gebieten der Anteil an Wiederholungstaten besonders hoch war. Dabei flossen Einbruchsdaten der vergangenen fünf Jahre ein: Tatort, Tatzeit, Vorgehensweise, Beute und Art des Gebäudes. Die Areale leuchten auf Günter Okons Monitor gelb – zurzeit sind es 56 in München, etwa 12 bis 13 Prozent der Stadtfläche. Ein Gebiet im Stadtteil Laim gehört dazu, in manchen Vierteln sind es nur wenige Straßen.

Geschieht in einem solchen Areal ein Wohnungseinbruch, löst Precobs schon nach wenigen Stunden einen Alarm aus, das heißt, es markiert zunächst ein rotes Rechteck von 250 Metern Kantenlänge – bis zu sieben Tage lang oder bis der Täter geschnappt ist. Die jeweiligen Verantwortlichen in den Stadtteilen entscheiden dann, ob sie auf den Alarm mit mehr Streifen oder sogar Bereitschaftspolizei reagieren. Meistens tun sie es, sagt Okon.

Das Prinzip ist nicht neu: Früher markierten Ermittler mit Stecknadeln auf dem Stadtplan Tatorte, um gefährdete Gebiete zu erkennen. Seit den 1990er-Jahren machen sie das am Computer und nennen es "Crime Mapping", wobei sie bislang allerdings meist nur die Tatorte der jüngsten Vergangenheit markieren konnten. Die neue Software sei jetzt aber in der Lage, genauere Prognosen zu treffen als die menschlichen Ermittler, so Okon: Durch die Erfassung der Delikte der vergangenen fünf Jahre beruht der Algorithmus auf weit mehr Daten. Zum Beispiel fließt ein, ob in einem Ein- oder Mehrfamilienhaus eingebrochen wurde und wie die Täter vorgingen.

Außerdem, erklärt Okon, könne das Programm Alarmgebiete von nur zehn Straßen ausweisen und nicht nur, wie früher, einen Stadtteil benennen. So ließen sich Streifen viel genauer einsetzen. Im November 2014 hatten Okons Kollegen dank Precobs zum Beispiel einen Volltreffer gelandet. Weil das System nach einem Einbruch in ein Mehrfamilienhaus einen Alarm auslöste, konnten sie drei Nächte später einen Autofahrer mit Einbruchswerkzeug festnehmen. Direkte Festnahmen wie diese seien aber noch selten, räumt Okon ein. Noch sei es zudem zu früh für ein Urteil, ob sich die sechsstellige Summe für den Einsatz von Precobs gelohnt hat.

Untersuchungen des Softwareherstellers IfmPt zeigen zwar: In den Alarmgebieten geschieht in etwa 80 Prozent der Fälle tatsächlich ein Folgedelikt. Eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung gebe es aber noch nicht, schreibt das Landeskriminalamt Niedersachsen in einer Studie von 2014. Sie zeigt Chancen und Risiken auf, "um die Diskussion um Predictive Policing in Deutschland zu objektivieren." Vor allem in einem Punkt ist Autor Alexander Gluba skeptisch: Es sei denkbar, dass Predictive Policing bekannte Problemviertel reproduziert und so stigmatisiert. Michael Schweer von IfmPt hält dagegen, die Prävention könne solche Gebiete eher entlasten.

Unterdessen schauen sich auch andere Bundesländer schon nach Vorhersage-Software um. In Nordrhein-Westfalen läuft eine Ausschreibung, das Gewinner-Programm soll ab Herbst in Köln und Duisburg getestet werden. Auch Baden-Württemberg habe schon Interesse bekundet, so das Bayerische Landeskriminalamt.

Das Predictive Policing könnte auch bald über das bloße Prognostizieren von Einbrüchen hinausgehen. So hat das Bundesforschungsministerium ein Projekt namens APFel am Flughafen von Erfurt finanziert, das Personenbewegungen analysiert. Ein System von Videokameras speichert Gesichtsmerkmale von Personen. Wenn ein Beobachter am Bildschirm eine verdächtige Person entdeckt – die zum Beispiel einen gesperrten Bereich betreten will –, kann er sie markieren. Das Programm sucht dann das Gesicht in den Aufnahmen etwa aus den vergangenen zwei Stunden.

So kann es beispielsweise feststellen, ob der Verdächtige seine Tasche gegen einen Koffer ausgetauscht hat, in dem schlimmstenfalls eine Bombe stecken könnte. Außerdem zeigt es auf, wohin der Verdächtige wohl als Nächstes gehen wird, erklärt Andres Radig, Geschäftsführer des beteiligten Luftfahrt-Beratungsunternehmens Avistra: "Wenn auf dem Bild zu sehen ist, dass er am Check-in für den Flug nach Mallorca anstand, wird er sehr wahrscheinlich auch am Gate dieses Fluges sein."

Anfang 2014 ist das Projekt ausgelaufen, jetzt sucht das Unternehmen Investoren, um das Produkt zur Marktreife zu bringen. Die Fördersumme betrug nach Informationen des Bundesforschungsministeriums zweieinhalb Millionen Euro – ein Zeichen dafür, dass in Predictive Policing inzwischen weit mehr gesehen wird als Wahrsagerei auf dem Bildschirm. (bsc)