Wird das Sterben im Mittelmeer verhindert?

Während aktuell die Trauer groß ist, wird schon am neuen Feindbild Schlepper gearbeitet

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"Stoppen Sie das Massensterben im Mittelmeer" - Diese Sprechchöre waren heute mehrere Stunden vor dem Kanzleramt in Berlin zu hören. Amnestie International hat vor dem EU-Gipfel zu Protesten aufgerufen. Mit den Sprechchören, die mehrmals wiederholt wurden, erinnerte die Kundgebung an Aktionen der kurzlebigen Occupy-Bewegung und ihr offenes Mikrophon. Wesentlich zorniger waren die Demonstranten, die am Mittwochabend in Berlins Mitte stattgefunden hat.

Dort war der Operationsleiter der Grenzschutzorganisation Frontex, Klaus Rösler, von der Schwarzkopfstiftung zu einem Vortag zum Thema "Wie funktioniert die Europäische Grenzsicherung" eingeladen worden. Die Veranstaltung war sicher schon vor Monaten geplant. Doch dass es die Stiftung angesichts des Massensterbens nicht fertigbrachte, die Fragestellung zu ändern und die Veranstaltung unter die Frage "Wie können wir das Sterben im Mittelmeer beenden?“ stellte, ist kein Zynismus, sondern sagt viel über die Grundlagen des bürgerlichen Staates.

Auf Sonntagsreden wird Menschlichkeit geheuchelt, ansonsten dominiert das übliche Politikgeschäft. Die Demonstranten wollten sich damit nicht abfinden und bewarfen Klaus Rösler mit Marmelade. Sie haben Ernst genommen, was die Schwarzkopfstiftung auf ihrer Veranstaltung formuliert: "Die Schwarzkopf-Stiftung möchte junge Menschen ermutigen, eigene Positionen zu drängenden europäischen Fragen zu entwickeln."

Eine halbe Minute verordneter Antirassismus

Die engagierten jungen Menschen, die nicht einsehen wollen, dass an Europas Küsten Menschen sterben müssen, wurden von Polizisten mit Pfefferspray daran gehindert, die Räume der Stiftung zu betreten. Daher ist auch nicht klar, ob vor der Veranstaltung mit Rösler eine Gedenkminute für die Toten im Mittelmeer abgehalten wurde. Am Sonntag musste eine solche Minute des Gedenkens in der Talk-Sendung von Günther Jauch durch einen engagierten Teilnehmer förmlich erzwungen werden.

Nachher ließen es sich manche konservativen Medien nicht nehmen, den Mann zu kritisieren, dass er nicht auf die Gefühle derer Rücksicht genommen hat, die überhaupt nicht um die Toten trauern, das vor einem Millionenpublikum im Fernsehen aber auch nicht so deutlich sagen wollten. Wenn man nun in der Sendung gesehen hat, wie selbst Roger Köppel, nachdem er in der Sendung die Stichpunkte für die Pegida-Demonstranten gegeben hatte, zumindest knapp 30 Sekunden stillstehen musste, kann den von einem engagierten Bürger verordneten Antirassismus durchaus etwas abgewinnen.

Allerdings ersetzt ein solches Trauerbekunden nicht die Frage, wie eine Alternative in der Flüchtlingspolitik aussehen kann, die den Menschen, die sich aktuell auf den Weg nach Europa machen, nützlich sein kann. Die Forderung "Fähren statt Frontex", die bei den Protesten gegen Rösler auf Schildern getragen wurden, kamen da einer Antwort noch am Nächsten.

Push Back Frontex

Bereits vor zwei Monaten vorher stand dort schon einmal eine kleine Gruppe von Demonstranten, die anlässlich des Polizeikongresses "Gegen die neue Dimension des Sterbenlassens auf See" protestierten . Hier zeigten sich also die Menschen, die nicht erst die Meldung vom ca. 1.000 ertrunkenen Geflüchteten brauchten, um gegen die Festung Europa auf die Straße zu gehen. Seit 23 Jahren dokumentiert eine kleine Gruppe von Antirassisten in Berlin, ohne jegliche finanzielle Unterstützung, die Gewalt, die gegen Geflüchtete ausgeübt wird .

Die neu aktualisierte Fassung ist vor wenigen Tagen erschienen. Dort wird auch der langwierige Kampf von Überlebenden eines Bootsunglücks im Mittelmeer im letzten Jahr dokumentiert. Die Menschen wollten zu Verwandten nach Berlin und sollten wegen der Dublin II-Regelungen in Italien bleiben, weil es das Land war, über das sie zuerst europäischen Boden betreten haben. Erst mit Unterstützung von Pro Asyl konnten die Menschen dann zu ihren Verwandten nach Deutschland einreisen.

Neues Feindbild Schlepper

Pro Asyl listet, wie viele andere zivilgesellschaftliche Organisationen, Maßnahmen auf, die das Massensterben im Mittelmeer stoppen könnten. Es wird heute sicher einige kosmetische Maßnahmen geben, die signalisieren sollen, dass sich Europa auch dem Leben von Geflüchteten verpflichtet fühlt. Doch zentral ist für die Politiker eine ganz andere Frage. Sie wollen neue Anstrengungen unternehmen, die Festung Europa noch sicherer zu machen und die Festungsbewohner erst gar nicht den Gewissensqualen und moralischen Skrupeln auszusetzen.

Die Geflüchteten sollen nicht mehr vor aller Augen im Mittelmeer sterben, sondern möglichst ohne Öffentlichkeit in Afrika. Daher wird "der Schleuser" zum Feindbild erklärt, der schließlich dafür sorgt, dass die Menschen überhaupt aufs Meer kommen. Nun soll die Bekämpfung der Schleuser einen ähnlichen Rang wie die Piratenbekämpfung bekommen. Ganz offen werden verschiedene Maßnahmen diskutiert, unter anderem die Zerstörung von angeblichen Schleuserbooten.

Dass dabei viele Menschen umkommen werden, Fischer und Geflüchtete, ist in dem Konzept schon inbegriffen. Hier suchen europäische Mächte wieder einmal ein neues militärisches Betätigungsfeld. Die Kriminalisierung des Schleußers ist die zentrale ideologische Mobilisierung in der neuen Runde des Kampfs gegen die Migration. Zu bestimmten Zeiten beispielsweise bis 1989 im Kalten Krieg wurden die jetzt stigmatisierten Schleuser als Fluchthelfer zu Helden erklärt.

Mit Kanonenbooten gegen Migranten

Derweil melden sich auf der rechten Seite des politischen Spektrums diejenigen zu Wort, die auch öffentlich keine Trauer über die Toten im Mittelmeer heucheln. Darunter gibt es diejenigen, die die Menschen gleich im Meer als Abschreckung sterben lassen wollen. In der britischen Boulevardzeitung The Sun hat die ultrarechte Kommentatorin Katie Hopkins offen geschrieben, was auch schon Politiker der damals noch mitregierenden Lega Nord gefordert haben:

Ich würde Kanonenboote einsetzen, um illegale Migranten zu stoppen.

Weil Hopkins die Geflüchteten auch als Kakerlaken bezeichnete, ist die Empörung in Großbritannien groß. In Deutschland schlagen die Rechten eher das Modell Australien vor. Dort werden Geflüchtete entweder auf einsame Inseln deportiert oder in ihre Herkunftsländer zurückverfrachtet. Diesen Vorschlägen hat sich auch Geert Wilders angeschlossen, der bei vielen europäischen Rechten großes Ansehen genießt und kürzlich in Dresden auf einer Pegida-Demonstration auftrat.

Solche Positionen sind in allen europäischen Ländern am Wachsen. Wenn auf einem EU-Gebäude am Pariser Platz in Berlin auch der Spruch prangt - "Willkommen im Europäischen Haus" - so sind damit längst nur die Bewohner der Festung Europas gemeint. Nicht alle wollen das aber so deutlich sagen.