Leben und leben lassen

Wieder einmal sorgt eine Preisverleihung an den Philosophen Peter Singer für heftige Diskussionen. Jetzt gehen auch einige seiner Anhänger auf Distanz

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Es ist ungewöhnlich, dass eine Auszeichnung nach einer lebenden Person benannt wird. Noch ungewöhnlicher ist es, wenn diese Person den nach ihr benannten Preis selbst erhält. Doch genau das wird heute um 18 Uhr in der Berliner Urania geschehen: Der australische Philosoph und Bioethiker Peter Singer wird in der Urania den mit 10.000 Euro dotierten "Peter-Singer-Preis für Strategien zur Tierleidminderung" entgegennehmen. Moderatorin des Festakts ist die amerikanische "Karnismus-Kritikerin" Melanie Joy. Europa-Parlamentarier Stefan Bernhard Eck wird darlegen, weshalb er sich in Brüssel für eine andere Tierpolitik auf der Grundlage des Ethikkonzepts von Peter Singer stark macht.

Die Laudatio auf den Preisträger sollte der deutsche Philosoph Michael Schmidt-Salomon halten. Doch wenige Tage vor der Preisverleihung sagte der Vorsitzende der Giordano Bruno Stiftung seine Teilnahme an der Preisverleihung ab. Als Grund führt er ein Interview an, dass Singer kürzlich der Neuen Züricher Zeitung gegeben hat. (Der Philosoph Georg Meggle in Telepolis über Peter Singer:Schwierigkeiten der Medien mit der Philosophie.)
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"Ein Embryo hat kein Recht auf Leben"

Dort geht es um genau die Themen, die in Deutschland und in vielen anderen Ländern oft zu Protesten führen, wenn Singer irgendwo auftritt oder einen Preis erhält. Deswegen wird er auch gerne mit den Adjektiven umstritten oder renommiert versehen. Beide Adjektive sagen aber wenig über den Gegenstand der Kontroverse aus.

Gegen die aktuelle Preisverleihung ruft in Berlinein Bündnis "Kein Forum für Peter Singer" zu Protesten vor der Urania auf. Dass dort Singer als Euthanasie-Befürworter bezeichnet wird, irritiert aus zwei Gründen. Zunächst ist schon der Begriff Euthanasie ein Euphemismus, heißt er doch übersetzt schöner Tod. Unter diesem Begriff wurden im NS Tausende Menschen ermordet, die als unwertes Leben bezeichnet wurden. Es ist fraglich, ob die Kritiker sich einen Gefallen tun, wenn sie Singer, der eine philosophische Position einnimmt, zum Euthanasiebefürworter stempeln. Warum kann Singer nicht kritisiert werden, ohne ihn gleich in die Nähe von Massenmördern zu rücken?

Doch diese Überspitzung hat im Umgang mit Singer Tradition. Immer, wenn eine neue Preisverleihung an Singer ansteht, wird er entweder als der große Humanist oder als Todesphilosoph tituliert. Dass Kritik an seiner Podien berechtigt ist, zeigt sich schließlich an dem Interview in der NZZ, das Schmidt-Salomon zum Rückzug von der Laudatio animierte. In dem Protestaufruf wird auf zwei Zitate von Singer verwiesen, die er sinngemäß in dem NZZ-Interview wiederholt bzw. radikalisiert hat.

"Würden behinderte Neugeborenen bis zu einem gewissen Zeitpunkt nach der Geburt nicht als Wesen betrachtet, die ein Recht auf Leben haben, dann wären die Eltern in der Lage (…), auf viel breiterer Wissensgrundlage (…), ihre Entscheidung zu treffen", wird aus Singers Bestseller "Praktische Ethik" zitiert. Im NZZ-Interview radikalisiert Singer diese Auffassung. Ein "Frühgeborenes im Alter von 23 Wochen" habe "keinen anderen moralischen Status als ein Kind mit 25 Wochen in der Gebärmutter".

Schmidt-Salomon wies darauf hin, dass Singer in einem philosophischen Disput 1993 noch erklärt habe, dass nur die Geburt "als Grenze sichtbar und selbstverständlich genug" sei, "um ein sozial anerkanntes Lebensrecht zu markieren. Würde die Vorstellung in das öffentliche Denken eingehen, "dass ein Kind mit dem Augenblick der Geburt nicht zugleich auch ein Lebensrecht besitzt, sinke möglicherweise die Achtung vor kindlichem Leben im allgemeinen", schreibt Singer in seinem Buch "Muss dieses Kind am Leben bleiben".

Schmidt Salomon fasst das Motto seiner Organisation so zusammen: "Lebensrecht für Alle. Lebenspflicht für Niemanden". Damit soll deutlich gemacht werden, dass es ein individuelles Recht auf Sterbehilfe gibt. Niemand sollte gezwungen werden weiterzuleben, wenn er es nicht möchte. Aber genau so wichtig ist ein unverbrüchliches Lebensrecht für alle Menschen qua ihrer Geburt. Daher sieht Schmidt-Salomon eine Gefahr, wenn Singer das Recht auf Leben nach der Geburt in dem Interview in Frage stellt.

"Würden Sie ein Baby foltern, wenn es der Menschheit dauerhaft Glück brächte?"

Irritiert reagierte Schmidt-Salomon auch darauf, dass Singer sich tatsächlich auf die Frage einließ, ob er bereit wäre, ein Baby zu foltern, wenn damit das Glück der Menschheit garantiert werde. Singer erklärte, ihm sei das auf Grund seiner Erziehung und Sozialisation nicht möglich, bedauerte es aber sogleich. "Ich wäre vielleicht nicht in der Lage, das zu tun, weil ich durch meine evolutionär entwickelte Natur Kinder vor Schaden bewahren will. Aber richtig wäre es. Denn wenn ich es nicht täte, würden in der Zukunft Tausende Kinder gequält."

Warum Singer nicht diese absurde Alternative zurückwies, ist sicher nicht nur für Schmidt-Salomon ein Rätsel. Schließlich wird damit explizit das Folterverbot aufgeweicht. Auch bei der Frage zur Sterbehilfe gab Singer verstörende Antworten. Auf den Einwand der Interviewerin Nina Streeck, durch eine weitere Verbreitung der Sterbehilfe "könnte Druck auf alte Menschen entstehen, sich selbst das Leben zu nehmen", antwortete Singer:

"Das kann passieren. Empfindet sich jemand als Belastung für seine Familie, ist es nicht unbedingt unvernünftig, dass er sein Leben beendet. Wenn seine Lebensqualität eher schlecht ist und er sieht, wie seine Tochter viel Zeit aufwendet, um sich um ihn zu kümmern, und dabei ihre Karriere vernachlässigt, dann ist es vernünftig, ihr nicht weiter zur Last fallen zu wollen."

An einer anderen Stelle im Interview fragt Peter Singer, wie viel eine Gesellschaft zahlen sollte, "um die Lebensqualität der Bürger zu heben, wenn sie mit dem gleichen Geld das Leben von Menschen in armen Ländern viel stärker verbessern könnte".

Dass es sich dabei nicht um ein Missverständnis handelt, zeigt sich an einer Passage in dem Aufruf zum Protest, de sich mit dieser Position deckt. Dort wird aus einen RadioInterview mit Singer im Jahr 2015 zitiert. "Ich möchte nicht, dass sich meine Versicherungsbeiträge erhöhen, damit Kinder ohne Aussicht auf Lebensqualität teure Behandlungen bekommen."

An anderer Stelle im NZZ-Interview erklärt Singer: "Wäre es besser zu vermeiden, dass mehr Behinderte auf die Welt kommen und Leute durch Krankheiten oder Unfälle behindert werden? Unbedingt. Dem würde fast jeder zustimmen." Mit solchen Äußerungen lässt Singer explizit viel Raum für Positionen, die in einer Sterbehilfe eineEntlastung des Sozialstaatesbegreifen.

Kollektiv statt Individuum

Michael Schmidt-Salomon, der sich als guter Kenner der Texte von Singer erweist, sieht als Grund für eine Radikalisierung von dessen Positionen die Überbetonung des Kollektivs zulasten des Individuums. Es ist eben ein Unterschied, ob man für ein individuelles Recht auf Sterbehilfe eintritt, oder ob man äußert, dass man notfalls sterben soll, damit man keine Belastung für die Gesellschaft und den Sozialstaat wird.

Es gibt hier aber durchaus Überschneidungen. Ein individuelles Recht auf Sterbehilfe kann für Gutverdienende ein Freiheitsgewinn sein. Für Menschen, die auf Transferleistungen oder auf Unterstützung von Angehörigen angewiesen sind, kann sie ein zusätzlicher Druck sein,nicht weiter zu Last zu fallen.

Es ist daher naiv, wenn von der Giordano Bruno Stiftung bisher behauptet wurde, in Ländern, in denen die Sterbehilfegesetze liberalisiert wurden, sei kein sozialer Druck auf einkommensschwache Menschen bekannt geworden, obwohl es solche Beispiele aus Holland gibt. So könnte die jüngste Kontroverse um Singer dazu beitragen, dass die Befürworter von mehr sozialen Freiheiten die soziale Komponente nicht außer Acht lassen. Solche Debatten wären auf jeden Fall sinnvoller, als mit Reizvokabeln wie Humanist oder Euthansiebefürworter eine Debatte eher zu erschweren.

(Ursprünglich hieß es, die Giordano Bruno Stiftung habe den Preis ausgerichtet. Das trifft nicht zu und wurde von der Redaktion korriguert.)