Ein Katalog aller Zellarten im menschlichen Körper?

Neue Methoden ermöglichen die rasche DNA-Analyse einzelner Zellen. Wie sich dadurch zeigt, gibt es weitaus mehr Zellarten als bislang angenommen – was alte Forschungsergebnisse widerlegen könnte.

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Von
  • Courtney Humphries

Neue Methoden ermöglichen die rasche DNA-Analyse einzelner Zellen. Wie sich dadurch zeigt, gibt es weitaus mehr Zellarten als bislang angenommen – was alte Forschungsergebnisse widerlegen könnte.

Wie viele unterschiedliche Zellarten gibt es im menschlichen Körper? Laut Lehrbüchern sind es einige hundert. Die wahre Zahl aber liegt ohne Zweifel weitaus höher.

Stück für Stück entstehen in Laboren wie dem von Aviv Regev am Broad Institute in den USA derzeit detailliertere Auflistungen der einzelnen Zellarten. Dazu nutzen die Wissenschaftler aktuelle Fortschritte in der Genomik, um einzelne Zellen mit bislang undenkbarer Geschwindigkeit und in großen Mengen zu analysieren.

Das Broad Institute separiert Zellen mit fluidischen Systemen auf winzigen Fließbändern und nimmt dann umfassende Genanalysen vor – Tausende pro Tag. Forscher gehen davon aus, dass solche Technologien auch Anwendung in der Medizin finden werden, in der kleine Unterschiede zwischen Zellen bedeutende Folgen haben können. Fortschritte werden etwa bei zellbasierten Wirkstofftests, Stammzellforschung, Krebstherapien und Grundlagenstudien über die Entwicklung von Geweben erwartet.

Sie selbst nutze die neuen Methoden zur Klassifizierung von Zellen in den Retinas von Mäusen und menschlichen Hirntumoren und finde damit Zellarten, die vorher nicht bekannt waren, berichtet Regev. „Wir wissen noch gar nicht richtig, aus was wir bestehen“, sagt sie.

Andere Labore arbeiten mit Hochdruck an eigenen Studien dieser Art und an der Verbesserung der benötigten Technologie. Mitte Mai veröffentlichte ein von Stephan Quake von der Stanford University geleitetes Team eine Analyse über 466 einzelne Hirnzellen. Dies sei der „erste Schritt“ auf dem Weg zu einer kompletten zellulären Atlas des menschlichen Hirns.

Derartige Untersuchungen sind erst seit kurzem realistisch möglich. „Vor ein paar Jahren war es noch schwierig, irgendwelche nützlichen Daten aus einzelnen Zellen zu bekommen“, sagt Sten Linnarson, ein Einzelzellbiologe am Karolinska Institute in Stockholm. Im März nutzte seine Gruppe die neuen Möglichkeiten, um mehrere tausend Zellen aus dem Gehirn einer Maus zu kartieren. Insgesamt wurden dabei 47 unterschiedliche Typen identifiziert, von denen einige Unterarten zuvor unbekannt waren.

Früher war die beste Methode für die Untersuchung einer einzelnen Zelle ein Blick durch das Mikroskop. In Krebskliniken etwa entscheiden Pathologen mit Hilfe von teils seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannten Farbstoffen, ob sie Krebszellen vor sich haben. Mit den alten Methoden ließen sich etwa 300 unterschiedliche Zellarten unterscheiden, sagt Richard Conroy von den National Institutes of Health in den USA.

Mit der neuen Technologie werden stattdessen Messenger-RNA-Moleküle in der Zelle katalogisiert. Diese Botschaften sind das genetische Material, das der Zellkern aussendet, um Proteine zu produzieren. Bei Linnarsons Methode wird jedem RNA-Molekül in jeder Zelle ein eindeutiger molekularer Strichcode angehängt. Das Ergebnis ist ein Profil der Genexpression. Es entspricht in etwa dem Fingerabdruck einer Zelle, der nicht ihr Aussehen zeigt, sondern ihre molekulare Aktivität.

„Früher wurden Zellen über einen oder zwei Marker definiert“, sagt Linnarson. „Heute können wir vollständig sagen, welche Gene in diesen Zellen exprimiert werden.“

Zwar haben Forscher schon vor Jahren herausgefunden, wie sich RNA aus einer Einzelzelle korrekt sequenzieren lässt. Doch erst vor kurzem haben Innovationen in Chemie und Mikrofluidik zu einer Explosion des verfügbaren Datenvolumens geführt. Das kalifornische Unternehmen Cellular Research etwa hat in diesem Jahr gezeigt, dass es Zellen in winzige Vertiefungen sortieren und dann die RNA von 3000 unterschiedlichen Zellen gleichzeitig analysieren kann; die Kosten dafür betragen wenige Cent pro Zelle.

Möglicherweise könnten die neuen Einzelzell-Methoden sogar frühere Forschungsergebnisse widerlegen. Der Grund dafür ist, dass ältere Studien zur Genexpression auf Gewebe- oder Blutproben mit Tausenden oder sogar Millionen von Zellen basierten. Dadurch bekamen die Forscher nur Durchschnitte zu sehen, sagt Eric Länder, Chef des Broad Institute.

„Einzelzell-Genomik ist in den vergangenen 18 Monaten unglaublich schnell reifer geworden“, sagte Lander bei einem Vortrag in diesem Jahr. „Und wenn man erst einmal weiß, dass man auch einzelne Zellen analysieren kann, wird man sich kaum noch mit einer Mischung aus vielen begnügnen. Es ist einfach verrückt, Genomik an solchen Mischungen zu betreiben.“

Landers Institut hat wichtige Beiträge zum Humangenomprojekt geleistet. Nach seinen Worten ist es jetzt möglicherweise an der Zeit, aus Pilotprojekten wie dem von Regev umfassendere Bemühungen mit dem Ziel zu machen, einen definitiven Zell-Atlas zu erstellen – einer, der alle menschlichen Zellarten nach ihrer Genaktivität katalogisiert und sie vom Embryo bis zum Erwachsenen nachverfolgt.

(sma)