Kiew stellt nun Kritik an den eigenen Nazis unter Strafe

Zwei geschichtsrevisionistische Gesetze rufen politische Beobachter auf den Plan und provozieren Kritik von Experten

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Kurz vor dem Gipfel der G7 im bayrischen Elmau hat Ukraines Präsident Petro Poroschenko das Bündnis der Industrienationen zur Geschlossenheit bei der Unterstützung seiner Regierung aufgerufen. Wie Nachrichtenagenturen vermeldeten, telefonierte er in dieser Sache auch mit US-Präsident Barack Obama.

Während der Konflikt zwischen Kiew und Moskau sowie die fragile Situation im Osten des Landes das Gipfeltreffen am Sonntag und Montag wohl bestimmen wird, sorgt die Führung in Kiew mit zwei Gesetzesinitiativen für Aufsehen: Zum einen sollen Orts- und Straßennamen aus der Sowjetzeit beseitigt werden. Zugleich könnte eine neue Regelung Nazi-Kollaborateure ehren und Kritik an ihnen unter Strafe stellen. Die internationalen Reaktionen sind verhalten bis besorgt.

Betroffen seien Dutzende Ortschaften und hunderte Straßen im Land, schrieb Leonid Berschidski von der Nachrichtenagentur Bloomberg. Poroschenko unterzeichnete demnach am 15. Mai ein Gesetz, das vordergründig die Sowjetunion und das deutsche Nazi-Regime gleichsetzt und Ehrungen von Vertretern beider Systeme verbietet. Die Regelung folgt der Politik der neuen Führung in Kiew, die in ihrem Einflussgebiet seit dem Maidan-Umsturz zahlreiche Statuen des russischen Revolutionsführers Wladimir Iljitsch Lenin hat beseitigen lassen. Das von Poroschenko Mitte Mai unterzeichnete Gesetz droht nun jenen mit Strafen, die "den kriminellen Charakter" der Sowjetunion und Nazi-Deutschlands leugnen.

Von den damit begründeten Umbenennungen sind bislang mindestens zwei Ortschaften betroffen: Dnipropetrowsk und Kirowograd. Der erste Ort ist nach Gregori Petrowski benannt, einem sowjetischen Politiker, der die Ukraine von 1920 bis 1930 regierte. Kirowograd trägt seinen Namen im Andenken an den Bolschewisten Sergei Kirow. Zu erwarten sei die Umbenennung dutzender anderer Ortschaften mit einer ähnlichen Namensgeschichte, schreibt Berschidski. Die schwer überschaubaren Kosten für die geschichtsrevisionistische Initiative wird mit umgerechnet rund 212 Millionen Euro angegeben.

Ein weiteres Gesetz hatte Poroschenko in diesem Kontext bereits Mitte April unterschrieben. Diese Initiative zielt darauf an, wie es heißt, "Kämpfer für die Unabhängigkeit in der Ukraine im 20. Jahrhundert" zu ehren. Der Blick auf diese Kombattanten aber sorgte für Unruhe bei Kennern der Regionalgeschichte. So soll die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) in den Heldenstatus erhoben werden. Gleiches trifft auf die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) zu. das Problem: Die UPA wird für den Massenmord an zehntausenden Polen "in einem der schrecklichsten Akte ethnischer Säuberungen in der Geschichte der Ukraine" verantwortlich gemacht.

So schreiben 40 Wissenschaftler, unter ihnen maßgeblich Historiker, in einem offenen Protestbrief an die Führung in Kiew. Zugleich weisen sie darauf hin, dass die OUN mit den Nazi-Besatzern zusammengearbeitet haben und für die Ermordung ukrainischer Juden mitverantwortlich gewesen sind. Sie stellen damit zugleich die Glaubwürdigkeit des neuen, ukrainischen Antitotalitarismus in Frage.

Während die Initiativen auf dem G-7-Gipfel in Bayern am Sonntag und Montag wohl keine Rolle spielen werden, wächst bei Fachpolitikern und politischen Beobachtern die Sorge. Sie respektiere zwar "die oft sensiblen und schmerzlichen historischen Debatten", merkte die Beauftragte für Pressefreiheit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Dunja Mijatovic, an.

"Aber breit gefasste und nur vage definierte Sprachregelungen könnten Menschen davon abhalten, ihre Ansichten über Geschehnisse und Personen der Vergangenheit zu äußern und damit zu der Unterdrückung von politischen Meinungen sowie von provokanten und kritischen Positionen führen, vor allem in den Medien", so Mijatovic weiter.

Immerhin sind die Sanktionen wegen etwaiger Verstöße gegen die neuen Regelungen entweder noch nicht definiert oder es werden mehrjährige Gefängnisstrafen angedroht.