Die totale Speicherung

Alles kann heute aufgezeichnet werden – wirklich alles. Kommt der Terabyte-Totalitarismus?

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Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Peter Glaser

Ein Freund schreibt aus Tokio. Der Künstler Takumi Endo hat ein Computerprogramm geschaffen, mit dem man nicht mehr nur einen Text schreiben kann, sondern auch speichern und wiedergeben, wie er geschrieben worden ist – schnell oder langsam, wo man gezögert hat, Pause gemacht, etwas gelöscht oder umgestellt. Eine Art Schreibrecorder, der an die transparente Malerei erinnert, die Pablo Picasso Mitte des zurückliegenden Jahrhunderts vor einer Kamera vollführte. Sensorisches Potenzial wie Kamera, Mikrofon oder Texterkennungsfähigkeit sind für moderne Rechner selbstverständlich. Mit den zunehmenden Speicherkapazitäten tauchen nun auch Konzepte zur maximalen Nutzung dieser Möglichkeiten auf. Die kühnsten Entwürfe zielen darauf, das ganze Leben einer Person aufzuzeichnen – alles. Der Name dieser Idee lautet Life Caching.

Gordon Bell war in den Sechzigerjahren maßgeblich an der Entwicklung der PDP-6 und später des Minicomputers DEC VAX beteiligt (der nicht Minicomputer hieß, weil er klein war, sondern weil damals gerade der Minirock in Mode gekommen war). Heute arbeitet Bell für Microsoft Research an einem Life Caching-Projekt, das sich ursprünglich "Cyber All" nannte und nun "MyLifeBits" heißt. Bell digitalisiert alles, was er besitzt, aufgeschrieben, fotografiert oder präsentiert hat. Das System nimmt inzwischen seine Telefongespräche auf, was er im Radio und sonst an Musik hört und im Fernsehen sieht. Ein Logger zeichnet jeden Tastendruck, jede Mausbewegung, jedes verschobene Fenster auf seinem Rechner auf.

Die Speicheranforderungen sind erstaunlich moderat. Mittlerweise hat Bell etwa 300.000 Datensätze angesammelt, die insgesamt 150 Gigabyte Speicherplatz in Anspruch nehmen. Die Daten liegen auf einem Laptop und einem Desktop-PC. Etwa 60 Gigabyte nehmen die Videodaten ein, 25 Gigabyte die Fotos, 18 Gigabyte Musik und Audiodaten. Den Rest teilen sich etwa 100.000 Webseiten, ebenso viele E-Mails, 15.000 Textdateien, 2.000 Powerpoint-Files und ein bisschen Vermischtes.

Für ein Unternehmen wie Microsoft ist vor allem die Marketing-Potenz eines solchen Lebensspeichers von Interesse – so würde auch kein Produkt mehr vergessen, das man jemals gekauft hat. Für Marktforscher ist die Schatzkiste, in der sich die Objekte unserer persönlichen Aufmerksamkeit befinden, höchst spannend. Diesen Fundus vollumfänglich anzapfen zu können, ist für die einen eine wundervolle Vorstellung, für die anderen ein Alptraum. Angesichts solcher Entwicklungen, die letztlich zu einem Terabyte-Totalitarismus führen, wird wieder deutlich, dass das Vergessen kein Mangel ist, keine Fehlerhaftigkeit, sondern etwas, das unser Menschsein mitbestimmt – es entlastet uns von unnötigem Erinnerungsballast, erleichtert Veränderung und Entwicklung, und die Fähgkeit zu vergessen, macht aus uns soziale Wesen, die anderen beispielsweise eine Chance zur Resozialisierung einräumen.

Auch im Pentagon ist man interessiert an der Technologie, die permanent Protokoll führt. Ein ursprüngliches Projekt LifeLog wurde nach einer äußerst kontroversen öffentlichen Debatte wieder aufgegeben; scheinbar. LifeLog sollte jeden Lebensaspekt einbeziehen, von E-Mails bis zum Essenseinkauf. Für Datenschützer war höchst fraglich, wie diese Informationen genutzt werden sollten. Große Teile des Projekts werden nun unter einer anderen Bezeichnung weitergeführt.

Das US-Verteidigungsministerium ist von Sensoren in der Kleidung von Soldaten fasziniert. Das Ganze nennt sich jetzt Advanced Soldier Sensor Information System and Technology (ASSIST) und soll alles aufzeichnen, was ein kämpfender Soldat sieht, sagt und tut, damit die Kommandeure in ihren Rechnercontainern sich ein besseres Bild der Lage machen können. Ein weiteres Ziel ist die automatische Erstellung so genannter "after action reports", etwa nach einem Patrouillengang. ASSIST soll sich selbstständig Schlüsselobjekte, Szenarios und Aktivitäten aus den Aufzeichnungen suchen können und das Ganze zu einem Rapport destillieren, der nachfolgenden Erkundungstrupps die Arbeit erleichtert.

Künstler bedienen sich ebenfalls der forcierten Aufzeichnungstechnologien. Im Jahr 2002 wurde der aus Bangladesh gebürtige Hasan Elahi, Kunstprofessor an der Rutgers University in New Jersey, irrtümlich auf einem US-Flughafen vom FBI verhaftet. Seiter ruft er jedesmal, bevor er eine Reise macht, bei der Behörde an und informiert sie. Seine Lebensaktivitäten dokumentiert Elahi unter anderem durch zahllose Digitalfotos, die er auf seiner Website veröffentlicht. Dort ist, da er stets einen GPS-Empfänger im Jackett trägt, auf einer interaktiven Karte auch sein genauer Aufenthaltsort zu verfolgen.

Die immer unaufhörlichere und detailliertere Aufzeichnung des Lebens birgt ein Problem, das der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges in seiner Erzählung "Von der Strenge der Wissenschaft" beschrieben hat. Darin wird von einem Reich berichtet, in dem die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit erreicht hat, dass die Kartographen schließlich eine Karte des Reiches schaffen, "die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm an jedem Punkte deckte". Eine Karte, die genauso detailliert ist wie die Wirklichkeit, verliert aber ihre Funktion. (wst)