Normalisierung

Onlinesein und Computerei sind ganz gewöhnlich geworden. Beginnt jetzt ein digitales Biedermeier?

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Von
  • Peter Glaser

Es war der 26. Februar 1991. Auf Platz 1 in den deutschen Charts stand, nicht ganz unpassend, "Beinhart" von Torfrock. Vier Wochen zuvor hatten Koalitionstruppen unter US-Führung mit der Befreiung Kuwaits begonnen, das seit August 1990 von irakischen Truppen besetzt war. Nun begannen sich die irakischen Truppen aus Kuwait zurückzuziehen und verbrannte Erde zu hinterlassen: Sie zündeten die kuwaitischen Ölquellen an.

Im Schatten der politischen Ereignisse begann am selben Tag fast unbemerkt ein neues Zeitalter: Tim Berners-Lee stellte am CERN den ersten Browser der Welt namens WorldWideWeb vor (Hier eine Kopie der allerersten Webseite, hier Berners-Lee über den Browser). Nachdem bereits seit Mitte der 70er Jahre die PC-Revolution rollte, wurden nun die Nachbrenner gezündet. Der Rest ist Geschichte. Gefühlt hat die Welt sich seither durch das Netz und die Folgen der Digitalisierung schon mehrfach auf den Kopf und wieder zurück auf die Füße gestellt. Aber die PC-Frühzeit ist vorbei und diejenigen, die sie von Anfang an erlebt haben, spüren nun auch das Vergehen der Zeit.

Was waren das noch für Zeiten, als man in Disketten mit der Schere seitlich eine Kerbe schnitt, um auch die Rückseite beschreiben zu können? Ist es wirklich schon so lange her, dass die Modems mit 300 Baud übertrugen und man zu Fuß neben jedem Byte mitgehen konnte? Dass man sich kaum einkriegen konnte über einen Rechner mit einem (in Worten: 1) Megaybte Speicher für gerade mal 3000 Mark, dessen Betriebssystem noch nicht fertig war, das dafür aber ab und zu kleine Bömbchen am Bildschirm ausgab? Dass man keine Ahnung hatte, was eine “Tabellenkalkulation” ist, sie für ein Spiel hielt und sich eine Wochenende lang mit seinen Freunden köstlich damit amüsierte?

Die Aufregung, mit der die neue Ära begonnen hatte, ist inzwischen verklungen. Die chronische Hysterie der IT-Branche wird vor allem von Marketingmenschen am Köcheln gehalten. Betriebssysteme stürzen immer noch ab, aber wir haben uns daran gewöhnt, wie an digitale Schlechtwetterlagen. Nach wie vor folgt die Hardware brav dem Mooreschen Gesetz und wird kleiner, schneller, billiger, smarter. Aber ständig vom Neuen fasziniert zu sein, ist nicht möglich. Früher haben Kunst und Magie die Menschen in Erstaunen versetzt, heute sind es Technik und Wissenschaft. In ihrem Buch “Where Wizards Stay Up Late” über die Ursprünge des Internet schreibt Katie Hafner über dieses neue Lebensgefühl: “Amerikas Romanze mit den Highways hat auch nicht damit begonnen, dass jemand Straßen begradigt, asphaltiert und mit weißen Streifen in der Mitte bemalt hat, sondern damit, dass einer auf den Trichter kam, seinen Wagen wie James Dean die Route 66 runterzufahren und das Radio laut aufzudrehen und eine gute Zeit zu haben.”

Computer sind unspektakulär geworden. Längst wächst eine Generation heran, für die diese Maschinen ganz selbstverständlich sind. Aber auch die Veteranen sehen, dass ihre technischen Träume real geworden sind – oft schneller und großartiger, als sie es sich hätten vorstellen können. Computer können jetzt endlich (fast) all das, was sie uns lange verheißen haben. Klar, früher konnten echte Informatiker noch ungestört durch die unendlichen Weiten des Cyberspace reiten. Männer mit der Lizenz zu löten, die wussten, wie man Primzahlen siebt und Superuser im Zentralrechner der Nasa wird.

Mit Mosaic, dem ersten frei verfügbaren Webbrowser, hat eine unaufhaltsame Entwicklung begonnen: Bis dahin musste, wer sich durchs Netz bewegen wollte, die altägyptischen Geheimnisse des Betriebssystems Unix beherrschen. Mit Mosaic konnten nun auch ältere Damen mit Hut innerhalb kurzer Zeit lernen, wie man netsurft. Das Netz wurde massentauglich. Zusammen mit Jim Clark gründete Andreessen 1994 die Firma Netscape Communication. Der Browser wurde millionenfach verschenkt, und als Netscape in Jahr darauf an die Börse ging, schoß der Kurs noch am selben Tag hoch wie eine Rakete und löste einen fünf Jahre andauernden Run auf Technologie-Aktien aus. Heute, nach einer Phase, in der der Markt von Microsofts Internet-Explorer beherrscht schien, bringen Firefox und Safari die Browser-Welt wieder heftig in Bewegung.

Im übrigen haben sich die wenigsten der Pioniere aus der IT-Gründerzeit wirklich zur Ruhe gesetzt. Marc Andreessen beispielsweise hat zuletzt das Meta-Social Network Ning mit angeschoben. Tom Jennings, der 1984 mit FidoNet das erste weltweite Amateur-Computernetzwerk ins Leben gerufen hatte, übernahm in den neuziger Jahren den Internet-Provider “The Little Garden” in San Francisco und arbeitet heute in einem Programm für Arts Computation Engineering der Universität von Kalifornien. Steward Brand, der 1985 ins San Francisco “The Well” ans Netz brachte, den Prototypen aller Online-Communities, kümmert sich heute um das Global Business Network - eine Art Müttergenesungswerk für verdiente Digerati -, und die Long Now Foundation, die eine Uhr bauen will, die einmal im Jahr tickt und 10.000 Jahre lang läuft. Louis Rossetto, der gemeinsam mit Jane Metcalf und dem MIT-Vordenker Nicholas Negroponte 1993 das Magazin Wired aus der Taufe gehoben und zum Zentralorgan der digitalen Kultur gemacht hatte, verkaufte das Blatt 1998. Er hat inzwischen eine Schokoladefirma gegründet.

Ein ausführlicher Essay von Peter Glaser zu diesem Thema findet sich in der aktuellen Ausgabe der Technology Review (“IT-Kultur: Die Gründergeneration der PC-Ära tritt ab. Was kommt danach?”, ab Seite 36) Das Heft ist seit dem 19.2. am Kiosk oder hier portokostenfrei online zu bestellen. (wst)