Untergraben

Data Minig von Hand ist die erlesenste Form der Informationsveredelung. In kürzester Zeit akkumulieren Nachrichtenschnipsel weitere Teile – eine Art "Informationsmagnetismus".

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Vorgestern berichtete der britische Guardian von einem Mann aus London, der seit 40 Jahren seine Nachbarschaft unterminiert. William Lyttle, den die Nachbarn den Maulwurfmann nennen, gräbt von seinem Haus im Stadtteil Hackney aus seit den späten Sechzigerjahren Tunnel; er vernetzt sozusagen den Untergrund. Niemand weiß, wie umfangreich die Kavernen sind, die der heute 75-Jährige bisher angelegt hat. Jünst durchgeführte behördliche Messungen mit Ultraschallscannern gaben Hinweise auf bis zu acht Meter tiefe Tunnels, die von Lyttles Haus an die 20 Meter in alle Richtungen ausstrahlen. Ein Nachbar berichtet, dass der Strom auf einer Straßenseite ausgefallen war, als der Maulwurfmann einmal eine Starkstromleitung angegraben hatte. Nun sollen die Löcher mit Zement gefüllt werden. Lyttle behauptet, er habe sich ursprünglich einen Weinkeller graben wollen, der im Lauf der Zeit etwas größer geworden sei. Vor fünf Jahren war der Gehsteig vor dem Haus eingebrochen. “Man konnte die ganzen Tunnel darunter sehen”, sagt eine Nachbarin. Und ein anderer Nachbar bringt zum Ausdruck, was Briten für Exzentriker empfinden: “Wir möchten nicht, dass diesem Mann etwas Böses geschieht. Er arbeitet hart. Bedauerlicherweise setzt er seine Energien nicht in die richtige Richtung ein.”

Das amerikanische Blog BoingBoing (“A Directory Of Wonderful Things”) war einen Tag später bereits im Bild. Einem BoingBoing-Leser war dazu ein Buch mit dem Titel “The Underground Man” eingefallen, in dem das Leben von William John Cavendish-Scott-Bentinck (1800–1879), des 5. Duke of Portland, nachgezeichnet wurde, welcher unter seinem Haus in Clumber Park in North Nottinghamshire ein riesiges unterirdisches Labyrinth angelegt hatte.

Während ich dort von Lyttles Grabungen las, fiel mir eine Geschichte über Seymour Cray ein, die irgendwann Ende der Achtzigerjahre in “Newsweek” gestanden hatte. Cray, der Vater der Supercomputer, soll im Keller seines Hauses in Chippewa Falls jahrelang an einem mit Holz verschalten Tunnel gearbeitet haben. Immer wenn er mit der Arbeit an seinem neuesten Supercomputer nicht weiterkam, ging er in den Keller und grub – während, so Cray, die Elfen aus dem benachbarten Wald in seinem Arbeitszimmer das Problem lösten. Ich überlegte, wo die Seite aus Newsweek sein konnte; ich wußte, dass ich sie damals rausgerissen hatte. Ich wußte auch, dass in meiner Garage etwa ein Kubikmeter nicht indizierter Zettel liegt.

Zum Glück leben wir in modernsten Zeiten. Auch andere BoingBoing-Leser erinnerten sich an Crays Tunnel. Einer wußte, dass nicht Cray selbst die Geschichte von dem Tunnel unter seinem Haus erzählt hatte, sondern sein Geschäftspartner John Rollwagen. Kurz darauf gab es ein Update der Anmerkung. Ein ehemaliger Mitarbeiter von Cray schrieb, dass Rollwagen die Geschichte (und einige andere) weitgehend erfunden habe, um den Ruf des visionären Genies Seymour Cray zu fördern.

Weitgehend? Ich fing auch an zu graben, und in einer alten Ausgabe von “Business Week” fand ich die Wahrheit hinter der Legende: “Was Cray tatsächlich mal gegraben hat, war ein dreieinhalb Meter tiefer, verschalter Schacht in ein Seeufer. Es war eine sportliche Übung für ihn, und er brauchte Platz für seine Windsurfing-Ausrüstung.”

Interessant an dem Ganzen sind nicht allein die schönen Anekdoten, sondern ein neues Phänomen, das man den Wissensmagnetismus des Web nennen könnte. In kürzester Zeit akkumulieren nun manchmal um ein Nachrichtenschnipsel weitere Teile – es ist Data Minig von Hand, die erlesenste Form der Informationsveredelung. Wenn dabei, wie im Fall der hübschen Cray-Legenden, noch detektivspannend Aufklärung betrieben wird, zeigt sich das Netz in seinem vollen Glanz. (wst)