Ebay-Ethnologie

Ein Hacker ist jemand, der Technik einer unvorhergesehenen, kreativen Nutzung zuführt. In diesem Sinne habe ich Ebay gehackt.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Im fröhlichen Angedenken an den verstorbenen Chaospionier Wau Holland möchte ich mal wieder daran erinnern, dass sich das Hacken neben dem Umgang mit hochgradigen Hardwarekomplexitäten und millionenzeiligem Quellcode immer auch auf einfache Prinzipien oder Ideen zurückführen läßt. Nicht nach Henry L. Mencken (der amerikanische Satiriker schrieb einmal "Für jedes Problem gibt es eine einfache Lösung – klar, einleuchtend und falsch"), sondern im Sinne von Wau, der sagte, dass schon jemand, der mit einer Kaffeemaschine heißes Wasser für eine Suppe macht, ein Hacker ist. Jemand, der Technik einer unvorhergesehenen, kreativen Nutzung zuführt. Wenn man die beiden masseführenden Drahtenden eines Stromkabels vorn und hinten in ein Würstchen steckt, fungiert das Würstchen als Widerstand und wird heiß, mit anderen Worten: Das Würstchen wird zwar nicht unbedingt delikat, dafür aber extrem schnell gegrillt. Das ist Hacken.

In diesem Sinn habe ich Ebay gehackt. Und ich bin ziemlich sicher, dass ich nicht der einzige bin. Eigentlich vorgesehen ist die Auktionsplattform als Hort einer modernen, nachhaltigen Ökonomie. Millionen Dinge vergammeln nicht mehr in Kellern und Garagen, sondern werden in gebrauchter Form wieder dem Wirtschaftskreislauf zugeführt oder freuen Sammlerherzen. Im Gegensatz zum erratischen Jagdglück auf Flohmärkten kann man in der riesigen Datenbank auch zielgerichtet auf die Krempelpirsch gehen oder chirurgische Angriffe auf die Unendlichkeit von Originalquellen ausführen. So habe ich, unter anderem, die erste Ausgabe des “Spiegel” mit einer Computer-Titelgeschichte gefunden (26. Mai 1965, “Elektronenroboter in Deutschland”), in der auch das berühmte falsche Zitat des IBM-Vorstandvorsitzenden Thomas J. Watson Senjor kolportiert wird, es gebe auf der Welt “einen Bedarf von vielleicht fünf Computern”.

Vor allem aber habe ich festgestellt, dass man bei Ebay eine Menge Dinge bekommen kann, die nichts kosten. Es ist ein eigenartiger Luxus, ähnlich wie wenn man ohne die Absicht, etwas zu kaufen und ohne Geld in der Tasche durch ein Großkaufhaus flaniert. Der fortwährende und von Zufällen bemischte Strom an Dingen, der die Ebay-Datenturbinen durchfließt, lässt sich mit den Suchwerkzeugen in feine Strömungen zerteilen. Ich betreibe damit gelegentlich Heimatkunde. Ein Wölkchen vom Suchbegriffen kommt zur Anwendung, die sich alle zum Beispiel um die Stadt Graz drehen, meine alte Heimat. Und immer wieder finde ich Dinge, die ich noch nicht kannte (und es genügt mir, sie zu sehen, ich muss sie nicht haben). Eine Postkarte aus der Kaiserzeit, auf der eine Brücke zu sehen ist, von der ich noch nie gehört habe. Der Kofferaufkleber eines Grand Hotels, in der umlaufenden Schrift “Deutsches Reich”, ein kleines Stück Authentizität. Dann noch eines, ein Erschreckendes.

Eine Postkarte des Hauptplatzes von Graz, als er Adolf-Hitler-Platz hieß (und der Stadt “in Anerkennung der Verdienste um den Nationalsozialismus” der Ehrentitel “Stadt der Volkserhebung” verliehen worden war). Statt der historischen Häuserfassaden sind nur noch wehende Wände aus roten Hakenkreuzfahnen zu sehen. Als ich in den sechziger und siebziger Jahren in Graz das Gymnasium besucht habe, ist nichts davon auch nur erwähnt worden. Danach habe ich die Postkarte auf dem Umschlag eines Buchs wiedererkannt, das ich sonst übersehen hätte, nun aber kaufte.

Ebay bringt das Unterbewusstsein der Geschichte nach oben, mit Bruchstücken, Nippes, Kleinkram, mit gelebten Dingen, die Dank der vernetzten Datensortiereinrichtung nicht mehr im Müll versinken, sondern fotografiert und beschrieben und etwas wie einem riesigen, dynamischen Sammelalbum hinzugefügt werden. Es ist eine Art des Zugangs zur Geschichte, wie ihn mir keine Schule vermittelt hat, die hat hierbei vollständig versagt. Bei Ebay nehme ich nun Nachhilfe. Es ist eher so, wie im “Echolot”, dem Jahrhundertwerk von Walter Kempowski, einer gewaltigen, vielstimmigen Sinfonie der Erinnerungen, in denen der Autor sich vollkommen zurücknimmt und alle Auswahlkräfte dem Meer an Material widmet. Aus Bruchstücken, Kleinkram, aus Briefen, Tagebüchern, Stundenplänen, Zeitungsschnipseln spannt er ein monumentales Netz auf und lässt eine ganze Epoche nochmal so nahe kommen, dass man sie riechen kann. (wst)