Tradition und Spion

Ein Anlass, der Diskussion um kritische Überwachungsmethoden auch literarische Aspekte abzugewinnen.

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Von
  • Peter Glaser

Welcher Grad an Überwachung sich demnächst erreichen läßt, zeigt eine Entwicklung von Medizintechnikern am Southwestern Medical Center der University of Texas in Dallas. Sie haben ein System entwickelt, bei dem ein RFID-Chip in der menschlichen Speiseröhre angebracht wird und den Durchfluss säurehaltiger und basischer Flüssigkeit misst und die Daten umgehend an einen Funkempfänger weiterleitet, der um den Hals getragen wird. Beim ersten Anzeichen von Sodbrennen soll der implantierte RFID-Sensor künftig die Magensäurewerte umgehend aufs Mobiltelefon und zum Hausarzt übertragen.

Wie ambivalent dabei Nutzen und Schrecken sind, hat Tradition. In Kürze beginnen die 31. Tage der deutschsprachigen Literatur, besser bekannt als Wettbewerb um den Ingeborg Bachmann-Preis in Klagenfurt. Das wollen wir zum Anlass nehmen, der Diskussion um kritische Überwachungsmethoden auch literarische Aspekte abzugewinnen. “Das Unerhörte ist alltäglich geworden” schrieb Ingeborg Bachmann schon 1953 in dem Gedicht “Die gestundete Zeit”. Heute, im Internet-Zeitalter, fühlen wir uns in einem solchen Satz ganz zu Hause. Manche betrachten Bachmann (“Alles Leben ist abgewandert in Baukästen”) sogar als frühe Medientheoretikerin - “Zu beobachten ist ein geradezu obsessives Vorzeigen der Apparaturen...”]. Was den Überwachungsansatz betrifft, kann man Schriftsteller im übrigen als Detektive betrachten, die in niemandes Auftrag handeln, ihre Ergebnisse aber jedermann verfügbar machen - eine soziale Form von Open Source, wenn man so will. Nicht immer ist die Arbeit einfach.

Am zehnten Tag seiner Reise nach Italien, dem 13. September 1786, berichtete Goethe, wie er sich in Malsesine (heute Malcesine) in den Hof einer Schloßruine setzte und einen alten Turm zu zeichnen begann. “Ich bemerkte wohl, dass mein Zeichnen Auffsehen erregt hatte; ich ließ mich aber nicht stören und fuhrt ganz gelassen fort.” Dann wird das Blatt von einem Mann zerrissen, Umstehende äußern Unmut über den Zeichner. Goethe weist auf sein beobachtendes Interesse als Reisender hin. Schließlich stellt sich heraus, dass der Turm genau die Grenze zwischen dem Gebiet Venedigs und dem österreichischen Kaiserstaat bezeichnet und keinesfalls ausspioniert werden soll. (Heute renommiert man damit gerne).

1985 beschrieb ich in einem Erzählband mit dem Titel “Schönheit in Waffen” (nicht mehr lieferbar, keine Werbung) etwas, das mir zehn Jahre zuvor am Hafen von Saloniki widerfahren war. Ich war als Beifahrer in einem LKW von Graz nach Athen unterwegs, und da der Fahrer noch Ladung erwartete, waren wir zwei Tage in Saloniki festgehalten. Ich hatte vollkommen ignoriert, dass die Türkei und Griechenland auf Zypern einen Krieg angefangen hatten; vor allem wusste ich nicht, dass nun auch die zivilen griechischen Häfen militärisches Sperrgebiet waren und ich nur deshalb auf das Gelände gelangt war, weil ich in einem LKW mit gültigen Frachtpapieren saß. Ich ging auf eine Mole hinaus und setzte mich auf einen Poller, um zu schreiben. Nach Jahren sah ich das Meer wieder und war in Hochstimmung. Dann wurde ich verhaftet und der Spionage für die Türkei verdächtigt; stundenlang fand sich niemand, der meine deutschen Sätze hätte lesen können. Erst viele Jahre danach habe ich gelesen, was Goethe in Malsesine wiederfahren war, seither der Alte und ich an dieser Stelle unauflöslich verbunden sind. “Schönheit in Waffen” heißt übrigens so nach der Stelle aus dem Song “First We Take Manhattan” von Leonard Cohen, an der es heißt “I'm guided by the beauty of our weapons / First we take Manhattan, then we take Berlin.” Was ich allerdings wirklich nicht verstehe, ist, wie ich das Buch bereits 1985 "Schönheit in Waffen" nennen konnte. Die LP “I’m Your Man” mit “First We Take Manhattan” ist erst 1988 veröffentlicht worden. Wahrscheinlich bekommen Schriftsteller von dort, wo unsere gemeinschaftlichen geistigen Magensäfte fließen, ein instinktives RFID-Signal. (wst)