Crowd und Rüben

Warum die "Weisheit der Massen" manchmal nicht der Weisheit letzter Schluss ist - auch nicht bei Fakten zum Thema James Bond.

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Von
  • Peter Glaser

Nach Jaron Lanier, der letztes Jahr mit seiner Streitschrift "Digitaler Maoismus" einen Stachel ins Fleisch des genialen Dilettantentums setzte, äußert sich nun auch der vormalige Wikipedia-Chefredakteur Larry Sanger kritisch zur Web 2.0-Wunderwaffe "Weisheit der Massen". Sie könne, so die Verheißung, eine Demokratisierung von Wissen herbeiführen. Experten sollen durch sie ihre aristokratische Position verlieren.

Aber es verliert sich auch anderes. Wer – um Laniers Polemik einen Refrain hinzuzufügen – in der deutschsprachigen Wikipedia meinen Namen nachschlägt, wird einen Abriß meiner Arbeit als Autor finden, in dem inzwischen fast alle Fakten richtig sind. Ich halte mich an die Wikipedia-Übereinkunft, einen Eintrag zur eigenen Person nicht zu edieren und lasse also, was nicht richtig ist, stehen.

Über korrekte Fakten hinaus gibt es im übrigen noch Methoden der weitergehenden Präzisierung von Fakten. Ich bin ja aus der Branche und kenne ein paar – eine davon heißt Dichtung. Es ist eine Methode, auf nichtmathematischem Weg kürzere Pfade zwischen zwei Punkten zu finden als eine gerade Linie. Keiner wird verlangen, dass eine Enzyklopädie gedichtet sein sollte, aber es ist eine Option. Die pragmatische Dichte eines Wikipedia-Artikels und die faktenverschärfende Dichte der Dichtung, der schriftstellerischen Arbeit, haben etwas miteinander zu tun.

Ich mag Kurzbiografien seit jeher nicht besonders, weil sie oft eitel, uninformativ oder schlichtweg absurd sind in dem Versuch, ein Leben in ein paar Zeilen zu skizzieren. Aus diesem Grund habe ich eine Kurzbemerkung zu meiner Person gedichtet: "1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden; lebt als Schreibprogramm in Berlin." Alles drin, was man braucht. Vor allem sagt dieser Schnipsel im angewandten Sinn etwas über mich und meine Arbeit. Ab und zu wird meine Kurzbemerkung von Wikipedianern, denen sie bekannt ist, in den Artikel zu meiner Person gestellt. Bisher ist sie jedesmal nach kurzer Zeit wieder der Wikipedia-Ironiepolizei zum Opfer gefallen. Was ist das für eine traurige Sachlichkeit, die sich ohne Not selbst beschränkt und souveränen Humor nicht zuläßt? Dinge prägnant und erfreulich auf den Punkt zu bringen, ist im Zeitalter grassierender Informations-Umweltverschmutzung erste Bürgerpflicht.

Andernorts im Netz zeigt sich noch deutlicher, dass die Weisheit der Massen nicht der Weisheit letzter Schluss ist. In einem Text wollte ich neulich eine Randbemerkung zu der Szene aus dem Film "Dr. No" machen, in der James Bond seine alte Beretta gegen eine neue Pistole eintauschen muss. Weder in dem zugrundeliegenden Roman noch in dem Film von 1958 ist die Pistole näher bezeichnet. Ich versuchte, im Netz mehr über die Waffe herauszufinden. Auf 131 Webseiten, davon 55 deutschsprachigen, taucht im Zusammenhang mit der Bewaffnung von James Bond die Typenbezeichnung "Beretta 905B" auf. Es sind fast ausschließlich filmbezogene Fan- und Feuilleton-Seiten.

Dass die Pistolen von 007 in den waffenbegeisterten USA kein wahrnehmbares Echo hervorgerufen haben sollten, machte mich mißtrauisch. Der deutschsprachigen Wikipedia zufolge ist die erste Pistole von Bond eine "Beretta 950B". Wer die teils im Kenner-Ton abgefassten Artikel mit dem verräterischen Zahlendreher liest, bekommt ein Gefühl dafür, was für ein fruchtbarer Boden für das Wachstum von Fehlerbäumen das Netz auch sein kann. Die Bond auf englischsprachigen Webseiten bevorzugt zugeschriebene "Beretta 418" führte schließlich auf die richtige Spur: "Bond carried a Beretta Bantam 1919". Der Weisheit der Masse, falls es eine solche werden möchte, sollten Sorgfalt und ein ausgebildeter Suchinstinkt vorangehen. (wst)