Der CO2-Zähler im Über-Ich

Beim Klimaschutz muss jeder bei sich anfangen, heißt es. Klingt zunächst einleuchtend, könnte uns aber einen unsympathischen Tugendwahn bescheren. Was wir wirklich brauchen, ist ein systemischer Umbau.

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Von
  • Niels Boeing

Am Wochenende hat der IPCC also die endgültige Fassung seines diesjährigen Berichts zum Klimawandel abgeliefert. Die FAZ hat ein verstecktes „Manifest“ herausgelesen: Die Forscher würden sich darin vom Kioto-Protokoll verabschieden, diesem „Fetisch der Klimaschutzpioniere“. Das sollte die weltweiten CO2-Emissionen reduzieren, darf aber wohl als gescheitert betrachtet werden.

Gleichzeitig macht der New Scientist seine aktuelle Ausgabe mit der provokanten Frage auf: „Is there any point in going green?“ Die Frage kann man sich durchaus stellen. Wird nicht die Aufholjagd von China, Indien und anderen Schwellernländern sowieso jede Energiesparbirne, zu der man sich hierzulande durchringt, mehr als aufwiegen?

Das Online-Magazin WorldChanging hat diesen Zweifel neulich noch radikaler formuliert: „Die ganze Idee, dass eine Änderung unseres Lebensstils in Richtung Nachhaltigkeit die Welt transformieren könnte, ist verfehlt.“ Wo es auf einen systemischen Umbau der Zivilisation ankomme, sei persönliche Tugendhaftigkeit reine Augenwischerei – und obendrein „nervig“.

Eine gewisse Ratlosigkeit macht sich offenbar breit. Und je genauer man hinschaut und Bilanzen durchrechnet, desto undurchsichtiger erscheint die Situation. Bahnfahren etwa ist nicht per se umweltfreundlicher als Fliegen (siehe hier, hier und auch hier). Der Genuss lokaler Lebensmittel mindert nicht unbedingt die CO2-Emissionen.

Sicher, ein konsequenter Westeuropäer könnte seine persönlichen Pro-Kopf-Emissionen an CO2 von 12 auf 4 Tonnen reduzieren, wie Fred Pearce im New Scientist vorrechnet. Nämlich dann, wenn er wieder zum Holzofen im Wohnzimmer zurückkehrt, nicht so oft duscht, Vegetarier wird, statt eines PCs einen Laptop sowie Energiesparbirnen nutzt, den Wäschetrockner rausschmeißt, aufs Auto verzichtet oder beim Reisen auf Langstreckenbusse umsteigt. Und natürlich auf Fernreisen möglichst verzichtet.

Vielleicht könnte irgendwann eine kritische Masse erreicht werden, bei der solche individuellen Umstellungen über eine veränderte Nachfrage das große Ganze beeinflussen, vielleicht sogar den CO2-Anstieg trotz Wirtschaftswachstum stoppen.

Aber was passiert danach? Ähnlich wie bei Steuern, die einmal eingeführt und nie wieder zurückgenommen werden, könnten sich dadurch kulturelle Verhaltensweisen einschleifen, die ebenfalls irreversibel werden. Die Fixierung auf das CO2-Äquivalent von allem und jedem hat das Zeug, einen neuen moralinsauren Muff hervorzubringen, dem die Ferne, das Fremde und das Ausschweifende von vorneherein verdächtig ist.

Erahnen lässt sich das bereits in der wieder aufgeflammten Tempolimit-Debatte. Natürlich spart ein Tempolimit auf Autobahnen nicht unerheblich CO2-Emissionen ein. Aber schaut man in aktuelle Onlineforen zum Thema, entdeckt man, dass Schnell-fahren schon in die Nähe eines Charaktermangels rückt.

Begrenzungen sind unvermeidlich, aber nur die Hälfte des Problems. Entscheidend sind auch echte Anreize zur Modernisierung. Man könnte zum Beispiel Wasserstoffautos, die kein CO2 emittieren (jedenfalls nicht im Betrieb), vom Tempolimit ausnehmen: Die Autohersteller würden sich ranhalten, ihrer PS-verliebten Klientel möglichst bald den alten Fahrspaß zurückzugeben. Die Klimaschutz-Mechanismen des Kioto-Protokolls bieten solche Anreize nur bedingt. Ein globales Energie- und Verkehrssystem, das erst gar kein CO2 produziert, wäre aber allemal besser als ein CO2-Zähler im Über-Ich, der ein marodes System zwanghaft herunterregeln will.

Das ist vor allem eine Frage der Technik, die so noch nicht da ist, und der politischen Organisation. Die halte ich nicht prinzipiell für unmöglich, wie etwa die Welthandelsorganisation WTO zeigt (auch wenn es dabei „nur“ um Profite geht).

Ich will hier einen Low-Carbon-Lifestyle als Teil der Lösung nicht schlecht machen – aber er ist kein Zweck an sich. Es ist noch nicht lange her, das wir in dieser Weltgegend einen tausendjährigen religiösen Dogmatismus hinter uns gelassen haben. Den sollten wir nicht durch eine krude Ökoreligion um das CO2 als Verstofflichung des Bösen ersetzen.

Wenn die Klimaforschergemeinde sich tatsächlich nicht nur vom Kioto-Protokoll, sondern auch von der Fixierung auf CO2-Vermeidung verabschiedet, könnte die Klimapolitik bald einen ganz neuen Schwung bekommen. (wst)