Kriminalisierung von Geflüchteten ohne große Proteste beschlossen

Das Argument, dass das Asylrecht auch eine Konsequenz der NS-Vernichtungspolitik war, verwenden heute nicht einmal mehr die Gegner

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Die Zugänge zum Bundestag werden von Tausenden Menschen blockiert, die sich gegen die Verschärfung der Asylgesetzgebung wenden. Auf den Straßen kommen die Bundestagsabgeordneten nicht weiter. Auch Boote haben die Antirassisten gemietet, die mit Protesttransparenten und Lautsprechern ausgestattet sind.

Solche Bilder gab es am 26. Mai 1993 rund um das Bonner Parlament. Antirassisten aus der ganzen Republik konnten nicht verhindern, dass vor mehr 23 Jahren eine ganz große Koalitionaus SPD, FDP und CDU/CSU das Asylrecht massiv verschärfte. Ihre Proteste konnten die Abstimmung allerdings um viele Stunden verzögern. Zudem warendie antirassistischen Gegenaktionen das zentrale Thema in der in- und noch mehr in der ausländischen Presse. Vor allem im Ausland wurden die zentralen Anliegen der Kritiker verstanden.

Während in ost- und westdeutschen Städten ein Bündnis aus Neonazis und Wutbürgern Flüchtlingsheime attackierte, zeigen die Politiker der führenden Parteien, dass sie die Sorgen der deutschen Protestbewegungernst nimmt und ihre Forderungen in moderater Form in Gesetze gießt. Mehr als zwei Jahrzehnte später haben sich die Wutbürger neue Namen geben.Pegida und ihre regionalen Ableger haben sind hier ebenso angetreten wie die lokalen "Nein-zum-Heim"-Initiativen.

Wieder werden von Meißen bis nach Berlin und Lübeck Unterkünfte attackiert, in denen Geflüchtete wohnen sollen. Und wieder zeigen bundesdeutsche Politiker großes Verständnis für das Anliegen der Flüchtlingsgegner und formulieren Gesetze, die ihnen das Gefühl gibt, dass sie gehört werden.

"Nun werden sich die Abschiebeknäste füllen"

Am 2.Juli beschloss der Bundestag nach der zweiten und dritten Lesung das Gesetz zur "Neubestimmung des Bleiberechts und derAufenthaltsbeendigung". Das Gesetz würde eine massive Ausweitung der Abschiebehaft für Geflüchtete bedeuten. Sie sollmöglich sein, wenn jemand "unter Umgehung einer Grenzkontrolle eingereist ist", Identitätspapiere wie Ausweise vernichtet oder "eindeutig unstimmige oder falsche Angaben gemacht hat", wie es im Gesetzentwurf heißt.

Abschiebehaft droht auch Geflüchteten, dievor der Einreise nach Deutschland bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, wenn Identitätspapiere fehlen oder die Behörden der Ansicht sind, sie würden über die Identität des Asylsuchendengetäuscht. Zudem droht Abschiebehaft, wenn Geld für Fluchthelfer bezahlt wurde und wenn der Flüchtling "Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität verweigert oder unterlassen hat". Eine 5-jährige Einreise- und Aufenthaltssperre ist für Flüchtlinge vorgesehen, deren Asylantrag im Schengen-Raum abgelehnt wurde, die "ihrer Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen sind" oder "in das Bundesgebiet eingereist sind, um öffentliche Leistungen zu beziehen".

Die Formulierungen des Gesetzes machen schon deutlich, dass damit eine Kriminalisierung von Geflüchteten möglich wird. Die Delikte sind so vage formuliert, dass davon sehr viele Menschen betroffen sein können. So soll die Bezahlung von Fluchthelfern zu einer strafbaren Handlung erklärt werden, obwohl das für viele Menschen die einzige Möglichkeit ist, überhaupt nach Europa zu kommen. Statt nun wie von humanitären und zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Pro Asyl seit Langem gefordert, den in vielen Ländern Nordafrikas festsitzenden Flüchtlingen gefahrlose Transfermöglichkeiten zu öffnen, damit sie nicht mehr den gefahrvollen Weg über das Mittelmeer nehmen müssen, sollen sie jetzt dafür kriminalisiert werden.

Ludger Hillebrand vom Jesuitischen Flüchtlingsdienst nannte im Interview mit der Taz die Gesetzesverschärfung ein großes Unrecht an den Geflüchteten. "Ich befürchte, dass wieder Flüchtlinge beim ersten Betreten Deutschlands festgenommen werden", erklärte er. Er ist überzeugt, dass die die sechs Abschiebegefängnisse, die in den letzten Monaten oft leer standen, wieder gefüllt werden. Das ist sicher ganz im Sinne der Pegidageher und –versteher.

Hillebrand macht auch deutlich, wie die Geflüchteten durch das neue Gesetz systematisch ihrer Rechte beraubt werden. So haben Abschiebegefangene kein Recht auf einen Pflichtverteidiger, für viele ist es schon schwierig, überhaupt an einen Anwalt zu kommen. Das betrifft gerade die Menschen, die oft die deutsche Sprache und natürlich auch ihre Rechte nicht kennen, die also besonders auf Anwälte angewiesen sind.

Wer nicht ertrinkt, wird eingesperrt

Gegen diese systematische Entrechtung einer schon vorher stigmatisierten Menschengruppe regt sich in diesen Tagen in Deutschland kein Massenprotest. Anders als 1993 mussten am 2. Juli 2015 die Politiker keine Blockaden umgehen. Die bundesweiten Proteste eines Bündnisses "Stopp Asylrechtsverschärfung" blieben klein und weitgehend symbolisch, wenn auch medienwirksam. Dazu gehörten Aktionen wie das Einfärben von Brunnen in verschiedenen Städten.

"Wir haben die Farbe Rot gewählt, um an das Blut der Menschen zu erinnern, die an den Außengrenzen der EU ihr Leben verloren haben und die aufgrund von bürokratischen Entscheidungen und unmenschlichen Gesetzen in ihrer Existenz bedroht sind. Das mag vielleicht ein wenig pathetisch sein, aber für eine andere Farbe reichte unsere Fantasie leider nicht aus", heißt es in einer Erklärung des antirassistischen Bündnisses.

Am Vorabend der Gesetzesverschärfung organisierten die Unterstützer der Geflüchteten vor der Berliner SPD-Zentrale eine Dauermahnwache unter dem Motto "Wir hätten Willy abgeschoben". Damit zieltensie auf den Namensgeber der Parteizentrale, den langjährigen SPD-Vorsitzenden Willy Brandt. Im Nachhinein haben nun auch die Jusohochschulgruppen Kritik am Verhalten ihrer Mutterpartei geübt. Unter dem Motto "Flucht ist kein Verbrechen" heißt es in der Erklärung:
"Es ist nicht das erste Mal, dass mit der SPD eine Verschärfung des Asylrechts durchgesetzt wird. Mit dem Gesetz, das gestern im Bundestag beschlossen wurde, werden Geflüchtete weiter kriminalisiert: Es ist nun unter anderem möglich, Menschen, die durch Schlepper*innen nach Europa gelangen, zu inhaftieren."

Sie verweisen auf die persönliche Erklärung des SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby, der die Asylverschärfung ablehnte.

Zeichen einer unsolidarischen Gesellschaft

Dass die Proteste gegen die weitere Entrechtung der Menschen, die schon bisher wenig Rechte haben, ohne Massenproteste vollzogen werden konnten, ist ein guter Seismograph der deutschen Gesellschaft im Sommer 2015. Die Regierung feiert die schwarze Null im Haushalt und mit Wolfgang Schäuble ist ein deutscher Politiker beliebt wie nie, weil er nicht nur im Fall Griechenland, sondern in der Vergangenheit öfter in der Flüchtlingsfrage deutlich gemacht hat, was deutsches Recht und deutsche Ordnung bedeuten.

Das Land, das seine Schulden nie gezahlt hat, spielt sich als Lehrmeister auf, und das liberale Asylrecht in Deutschland, das einmal eine Konsequenz der NS-Vernichtungspolitik war,ist anders als 1993 heute sogar in den Argumenten der Antirassisten nicht mehr präsent.