Hartz IV und die Politik der Angst

Mit dem griechischen Nein zur Austerität könnten sozialchauvinistische Hürden fallen, wenn die Prekarisierten in Europa merken, dass sie gemeinsame Interessen haben

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Auch nach dem Nein der griechischen Bevölkerung gegen das Austeritätsprogramm der EU geht der Druck auf die griechische Regierung auf allen Ebenen weiter. Jetzt soll der griechische Regierungschef bis zum Sonntag Bedingungen erfüllen, die sich nur in Nuancen von den bisherigen von der griechischen Bevölkerung mit großer Mehrheit abgelehnten Programmen unterscheidet.

Schon fürchten nicht wenige in der griechischen Bevölkerung, dass Tsirpas mit der Bestätigung des Referendums im Hintergrund zu Zugeständnissen bereit ist, die der Bevölkerung weitere Opfer abverlangt. Sein betont staatstragendes Auftreten nach dem Referendum und seine sehr mit nationaler Rhetorik gespickten Reden könnten solche Vermutungen bestätigten.

Auch der Rücktritt des griechischen Finanzministers Varoufakis, der in seinen Reden und Schriften immer von einem Reformkapitalismus ausging, der aber die Politik von EU-Institutionen und IWF noch beim Namen nannte, war eine Vorleistung an die EU-Institutionen. Doch die reagierten nicht etwa so, dass die nun ihrerseits von ihren Maximalpositionen abrückten.

Dabei war das Dilemma von Anfang an, dass Tsipras und seine Strömung bei Syriza einen Austritt aus der Eurozone nie als Plan B in Erwägung zogen. Das aber unterstellen ihm die konservativen Befürworter immer fälschlicherweise. Dabei wäre ein solcher Plan B die einzige Möglichkeit, um einen Prozess voranzutreiben, der den Widerstand gegen das Europa der Austerität vorantreibt.

Dafür mag der parlamentarische Raum eine Ebene sein. Doch kommt es dabei auch auf das selbstorganisierte Handeln einer Bevölkerung an, die nicht nur bei Abstimmungen ihr Oxi zu den oktroyierten Verhältnissen artikuliert. In Athen gab es in den letzten Tagen, seit die Banken geschlossen sind, Nulltarif beim öffentlichen Nahverkehr.

Das war ein solches Beispiel, wo sich in Zeiten einer zugespitzten gesellschaftlichen Auseinandersetzung im Alltag Brüche und soziale und politische Veränderungen abbilden können. In denen Menschen auch Erfahrungen mit einer Organisation des Lebens machen können, die sich nicht mehr ausschließlich auf kapitalistischen Verwertungsinteressen beziehen. Die zahlreichen Solidaritätsorganisationen im Bereich von Bildung Gesundheit, Notversorung für Arme sind ein weiteres Beispiel.

Solche Selbstorganisierungsprozesse im Alltag werden oft unterschätzt, wenn vor allem auf Wahlergebnisse und Referenden geblickt wird. Dabei sind solche Prozesse eine wichtige Grundlage dafür, dass im Alltag erfahren wird, dass es ein Leben jenseits der Austeritätspolitik gibt.

Hat die Angst die Seiten gewechselt?

So wird am Beispiel Griechenlands wieder deutlich, dass auch Menschen, die in eine Notlage getrieben werden, widerständig handeln können, wenn sie Strukturen haben, wo sie sich organisieren und auch die Vereinzelung zumindest zeitweise überwinden. Denn die Austeritätspolitik ist auch eine Politik der Angst, gerade und vor allem gegenüber den einkommensschwachen Menschen. Diese Angst wird auch bewusst eingesetzt, um die von diesen Maßnahmen Betroffenen zu vereinzeln und sie am Widerstand zu hindern.

Nach dem Nein aus Griechenland am letzten Sonntag schrieb der Chefredakteur des Neuen Deutschland Tom Strohschneider, dass die Angst die Seiten gewechselt hat:

"Die Griechen haben 'Oxi' gesagt, und in diesem Nein steckt die Botschaft, sich von der Angst, auf der die herrschenden Verhältnisse sich gründen, nicht mehr bange machen zu lassen. Das ist das Historische daran. Es wird nicht einfacher werden, nicht einmal ein bisschen. Jedoch: Die Angst hat an diesem Tag die Seiten gewechselt. Sie ist durch das Votum der Menschen in Griechenland zu jenen hinübergeworfen worden, die sich bisher sicher sein konnten, mit ihr den wirksamsten Hebel zu Niederhaltung der Interessen einer Mehrheit in der Hand zu halten. Haben sie diesen noch?"

Die letzten Tage nach dem Referendum zeigen, dass sie den Hebel noch in der Hand halten. Aber ist nicht das starre Festhalten am Kurs der Austerität gegenüber jeden wirtschafts- und sozialpolitischen Sinn und Verstand auch ein Zeichen der Angst? Zeigen nicht gerade die rechtspopulistischen Ausfälle des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel vor und nach dem Referendum die Angst, dass sich Teile der Parteibasis von dem Nein aus Griechenland aus dem einfachen Grund anstecken lassen könnten, dass eine Mehrheit in Griechenland auch die Interessen der Menschen in anderen europäischen Staaten, darunter in Deutschland, vertritt, die bereits Opfer für die Austeritätspolitik gebracht haben?

Griechenland, der freche Erwerbslose unter den Nationen

In Deutschland ist diese Politik der Angst gegen die Armen mit der Agenda 2010, besser bekannt als Hartz IV. Hier wurden ganz bewusst Erwerbslose in Angst gehalten, um den Preis der Ware Arbeitskraft zu senken und den Standort Deutschland wirtschaftsfähig zu machen. Produziert wurde ein Millionenheer an Niedriglöhnern, deren Einkommen teilweise so gering ist, dass sie selbst bei einem Vollzeitjob ihren Lebensunterhalt nicht mehr durch ihr Einkommen oder ihren Lohn bestreiten können.

So gibt es mittlerweile ein Millionenheer von Aufstockern, die mit Harz IV ihren Lohn aufbessern müssen. Insofern betrifft die Politik der Angst der Agenda 2010 eben nicht nur Erwerbslose, sondern alle Lohnabhängigen. An vielen Arbeitsstellen blieb eine Gegenwehr gegen Arbeitszeitverdichtung und Lohnsenkungen aus, weil die Betroffenen Angst hatten, unter Hartz IV zu fallen, wenn sie sich wehren.

Aktive Gewerkschafter berichteten in den letzten Jahren immer wieder, wie sich in vielen Betrieben die Bereitschaft zur kollektiven Gegenwehr verringerte, weil die Angst umging, in Hartz IV zu landen. Neben dem Druck trug der Sozialchauvinismus noch einen wichtigen Anteil dazu bei, dass es in Deutschland nur in wenigen Fällen zu einer kollektiven Gegenwehr gegen das Hartz-IV-Regime und die Niedriglohnpolitik kam. Die durch die Angst erpressen Opfer wurden als notwendig für den Standort Deutschland verklärt.

Die wenigen Menschen, die sich zu diesen Opfern nicht bereit erklärten und als freche Erwerbslose auch öffentlich in Erscheinung traten, waren dann nicht selten besonderen Anfeindungen von Menschen ausgesetzt, die dadurch ihr Opfer entwertet gesehen haben. Ein ähnliches Phänomen können wir in der Griechenland-Debatte beobachten, wo Politiker von Staaten, die durch die Austeritätspolitik in eine ähnlich desaströse Lage gebracht werden, besonders wütend auf die griechische Regierung sind - sie könnten schließlich auch die eigene Bevölkerung zur Gegenwehr verführen.

Wenn sich die griechische Regierung mit ihren Nein zur Austerität durchsetzt, könnten die sozialchauvinistischen Hürden fallen und so tatsächlich deutlich werden, dass die Prekarisierten in Europa gemeinsame Interessen haben und dass Opfer für den Standort keine gute Idee sind. Daher besteht die größte Angst der Eliten in Europa auch darin, dass der Griechenland-Virus sich auf diese Weise tatsächlich verbreitet.

"Zeitgenössischer Kapitalismus begrenzt die Demokratie“

Es sind in letzter Zeit vor allem die Befürworter der Austeritätspolitik, die die Hartz-IV-Politik in Deutschland in den Kontext der europäischen Austeritätspolitik stellen. So war es der CSU-Politiker Markus Ferber, der als Diskussionsteilnehmer an der Sendung Kontrovers im Deutschlandfunk von letzten Montag betonte, dass Deutschland mit Hartz IV seine Wettbewerbsfähigkeit wiedergewonnen habe und dass Griechenland ein solcher Prozess noch bevorstehe.

Nur einen Tag später schlugen der rechtsliberale und wirtschaftsfreundliche holländische Politiker Hans van Balen und sein Stichworte liefernder Interviewer in die gleiche Kerbe. Der Reporter stellte die Frage:

"Herr van Baalen, Sie selber erinnern sich sicherlich noch sehr gut. In den 1980er-Jahren steckten die Niederlande selber in einer tiefen schweren Wirtschaftskrise und haben dann zu etlichen Reformen gegriffen. Was in Deutschland dann später geschehen ist mit den Hartz-Gesetzen, hatte viel auch mit diesem Vorbild zu tun. Prägt das die niederländische Debatte und auch Ihren Blick bis heute?"

Die Antwort war eindeutig:

"Was wir wollen und was wir getan haben war Austerität, und das hat uns am letzten Ende geholfen. Hartz hat auch Deutschland geholfen. Ich meine, Frau Merkel ist geholfen worden von Schröder. Schröder ist nicht belohnt worden, aber Bundeskanzlerin Merkel hat das Hartz-Paket und die Reformen geerbt und das ist natürlich sehr gut gewesen. Das kann man auch in Griechenland machen."

Diese Aussage zeugt schon von einen bemerkenswerten Demokratieverständnis, hat doch die griechische Bevölkerung mit den Wahlen und der Abstimmung deutlich gemacht, dass man es mit ihr nicht machen kann, weil bei ihr auch dank kollektiver Strukturen die Politik der Angst nicht so gut funktioniert wie in Deutschland bei der Einführung von Hartz IV.

Das ist ein schönes Beispiel für die These, die der slowenische Philosoph Slavoj Zizek aufstellt: "Zeitgenössischer Kapitalismus begrenzt die Demokratie.“

Natürlich fragt der Interviewer nicht, wie van Baalen die griechische Bevölkerung trotzdem dazu bringen will, diese Politik dort einzuführen. Gibt es etwa Pläne, das Land unter ein Protektorat zu stellen? Da vor allem in Deutschland die Befürworter der Austerität mit der Hartz IV-Politik, also der systematischen staatlichen Verarmungspolitik, werben und die davon Betroffenen diesen Zusammenhang nicht als Mobilisierung für den Widerstand nutzen, hat die Angst noch nicht endgültig die Seiten gewechselt.

Dafür haben international bekannte sozialdemokratische Ökonomen in einem Offenen Brief an Merkel ein Ende der Austeritätspolitik gefordert. Sie argumentieren aus der Position der wirtschaftlichen Vernunft. Die Interessen der anderen Seite müssen den Austeritätshardlinern auf europäischer Ebene entgegensetzt werden, damit sie sich durchsetzen.