Das Steve-Fieber

Unzählige winzige Maschinen fallen über lebende Menschen her und borgen sich deren Hände, Augen und Ohren. Eine SF-Erzählung von Steve Egan.

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Lesezeit: 41 Min.
Von
  • Greg Egan

Einige Wochen nach seinem 14. Geburtstag, die Sojabohnenernte sollte bald losgehen, begann Lincoln lebhaft zu träumen, er werde die Farm verlassen und in die Stadt fahren. Nacht für Nacht stellte er sich vor, wie er Vorräte zusammenpackte, an den Highway trottete und in Richtung Atlanta trampte. Es war nicht ganz unproblematisch, wie die Dinge in dem Traum erledigt werden mussten; so bemühte er sich jede Nacht, eine Lösung dieser Probleme zu finden. Die Speisekammer würde natürlich abgeschlossen sein, also träumte er einen Nebenplot, in dem er ein Geheimlager für Einbruchswerkzeuge anlegte. Überall auf dem Gelände der Farm gab es Sensoren, also träumte er von verschiedenen Wegen, auf denen diese umgangen oder ausgeschaltet werden konnten.

***

Auch wenn er ein Szenario zustandegebracht hatte, das perfekt schien, zeigten sich bei Licht besehen weitere Mängel. Das Gitter zur Abdeckung eines Teils des Bewässerungsgrabens unterhalb des Zauns war zu stark, um mit einem Bolzenschneider durchschnitten zu werden. Und der Schweißbrenner hatte eine biometrische Sperre.

Als die Ernte begann, schaffte es Lincoln, einen großen Stein in den Mähdrescher zu verkanten und meldete sich dann freiwillig für die Reparatur des Schadens. Unter der Aufsicht seines Vaters erledigte er die Arbeit akribisch, und als er das erwartete Lob erhielt, antwortete er mit einer, wie er hoffte, würdevollen Mischung aus Stolz und Belustigung, "Ich bin kein Kind mehr. Ich kann mit dem Schweißbrenner umgehen."

"Yeah." Sein Vater schien für einen Moment verlegen. Dann hockte er sich hin, stellte den Schweißbrenner auf Supervisor-Mode und fügte Lincolns Handabdruck auf die Autorisierungsliste.

Lincoln wartete auf eine mondlose Nacht. Der Traum wiederholte sich weiter, hieb ungeduldig gegen seinen Schädel, wollte unbedingt Realität werden.

Als es die richtige Nacht war und er sein Zimmer verließ, barfuß in der Dunkelheit, hatte er das Gefühl, er werde nun eine oft geprobte Szene aufführen – kein Theaterstück, eher einen ausgeklügelten Tanz, der in jeden Muskel seines Körpers gesickert war. Zuerst trug er seine Stiefel zur Hintertür und ließ sie neben der Stufe. Dann trug er seinen Rucksack zur Speisekammer, das geborgte Werkzeug auf verschiedene Taschen verteilt, damit kein Scheppern zu hören sein würde. Die Scharniere der Kammertür befanden sich innen, aber er hatte deren Position mit dem Taschenmesser im Lack markiert und geübt, diese Kratzspuren zu ertasten.

Seine Mutter hatte vor Jahren die Speisekammer nach einem mitternächtlichen Raubzug von Lincoln und seinem jüngeren Bruder Sam gesichert, aber es blieb doch nur eine Speisekammer und war kein Tresor. Die Ahle nagte sich leicht durch das Holz und legte die Spitze einer der Schrauben frei, welche die Scharniere an ihrem Platz hielten. Die Zange, die er zunächst benutzte, konnten die Schraube nicht fest genug greifen um sie zu drehen, aber Lincoln hatte eine Alternative geträumt. Er entfernte mit der Ahle ein bisschen mehr Holz, dann klemmte er eine Sechskantmutter auf das Schraubengewinde und benutzte einen Imbusschlüssel mit t-förmigem Stiel, um sie beide zusammen zu drehen. Die Schraube konnte nicht viel bewegt werden, es reichte aber aus, um sie zu lockern. Er entfernte die Mutter und nahm die Zange. Mit einigen festen Hammerschlägen auf den Imbusschlüssel brach die Schraube aus dem Holz.

Er wiederholte die Prozedur weitere fünf Mal und löste so die Scharniere völlig und dann drückte er gegen die Tür, mit festem Griff an der Türklinke, bis die Feder des Schlosses aus ihrer Hohlkehle glitt.

Die Speisekammer war pechschwarz, aber er wollte es nicht riskieren, seine Taschenlampe zu benutzen; er fand was er wollte aus dem Gedächtnis und durch Tasten, füllte den Rucksack mit ausreichend Proviant für eine Woche. Und danach? Er hatte sich das nie gefragt, in dem Traum. Vielleicht würde er in Atlanta neue Freunde finden, die ihm helfen würden. Der Gedanke schlug eine Saite an, die nicht nach Ungewißheit klang, sondern nach einer Wahrheit, an die er sich erinnerte.

Der Geräteschuppen war sicher verschlossen, aber Lincoln war noch dünn genug, um durch das Loch in der Rückwand zu passen; es war so lange hinter Gerümpel versteckt gewesen, dass es irgendwann von der Reparaturliste seines Vaters verschwunden war. Anstatt sich durch die Dunkelheit zu tasten, riskierte er diesmal die Taschenlampe und ging direkt zum Schweißbrenner hinüber. Er bugsierte ihn durch das Loch und machte sich nicht die Mühe, die verrotteten Balken, die die Öffnung verbargen, wieder an ihren Platz zu legen. Es hatte keinen Sinn seine Spuren zu verwischen. Minuten nach dem Aufstehen würden seine Eltern seine Abwesenheit sowieso bemerken, Schnelligkeit war also das einzig Wichtige.

Er zog seine Stiefel an und steuerte auf den Bewässerungsgraben zu. Melville, der deutsche Schäferhund, trottete heran und begann Lincolns Hand abzulecken. Lincoln blieb stehen und streichelte ihn kurz, dann schickte ihn mit festem Befehlston zum Haus. Der Hund gab einen leisen sehnsüchtigen Laut, gehorchte aber.

Zwanzig Meter vor dem Grundstückszaun kletterte Lincoln in den Wassergraben. Das geschlossene Teilstück war noch einige Meter entfernt, aber er duckte sich gleich, um die notwendige unnatürliche Gangart zu üben und um sich vor dem starren Blick des Sensors zu schützen. Er nahm die Taschenlampe unter den einen Arm, damit sie nicht nass würde. Die Kühle des Wassers störte ihn nicht weiter; seine Stiefel wurden schwer, aber er wusste nicht, was der Wassergraben verbarg und er wollte lieber die Stiefel voll Wasser haben als einen von einem ein rostigen Stück Alteisen aufgeschnittenen Fuß.

Er kroch in die Betonröhre; ein paar Schritte brachten ihn zum Metallgitter. Er schaltete den Schneidbrenner ein und orientierte sich am Licht der Bedienungskonsole. Als er die Schutzbrille aufsetzte, war er wie blind, aber dann drückte er den Auslöseimpuls des Schneidbrenners, und die Lötflamme erleuchtete den Tunnel um ihn herum.

Jede einzelne Metallstange zu durchtrennen dauerte nur Sekunden, aber es waren viele. In der räumlichen Enge war die Hitze erdrückend; sein T-Shirt war bald schweißnass. Aber er hatte frische Sachen im Rucksack und er konnte sich im Graben waschen, wenn er erstmal durch war. Sollte er dann immer noch nicht ordentlich genug für einen Lift sein, würde er eben nach Atlanta laufen.

"Junger Mann, komm sofort da raus."

Lincoln machte sofort die Lötflamme aus. Die Stimme und diese Worte konnten nur zu seiner Großmutter gehören. Ein paar Herzschläge lang fragte er sich, ob er sich das nur einbildete, aber dann fügte sie in demselben unmissverständlichen Ton, aber schärfer, hinzu, "Spiel keine Spielchen mit mir – dafür fehlt mir die Geduld."

Lincoln sackte in der Dunkelheit in sich zusammen, verzweifelt. Er hatte seinen Weg in jedem Detail geträumt, über jedes Hindernis hinweg. Wie konnte sie aus dem Nichts auftauchen und alles zerstören?

Es war kein Platz sich umzudrehen, also kroch er rückwärts zum Ausgang des Tunnels. Seine Großmutter stand am Rand des Wassergrabens.

"Was glaubst du denn, was du hier tust?" fragte sie.

Er sagte, "Ich muss nach Atlanta."

"Atlanta? Ganz allein, mitten in der Nacht? Was ist passiert? Hast du vielleicht Lust auf ein bestimmtes Essen, das wir dir nicht geben?"

Ihr Sarkasmus veranlaßte Lincoln, finster dreinzuschauen, er war aber klug genug, nicht zu reagieren. "Ich habe davon geträumt", sagte er, als wenn das etwas erklärte. "Nacht für Nacht. Die beste Methode ausgearbeitet."

Seine Großmutter sagte eine Weile lang nichts, und als Lincoln merkte, dass sie geschockt war, spürte auch er einen Anflug von Furcht.

Sie sagte, "Du hast keinen vernünftigen Grund wegzulaufen. Schlägt dich irgendwer? Behandelt dich jemand schlecht?"

"Nein, Ma'am."

"Warum genau musst du also weg?"

Lincoln fühlte sein Gesicht heiß werden vor Scham. Wie konnte er das übersehen? Wie hatte er sich vormachen können, die Obsession sei seine eigene? Aber auch wenn er sich selbst für seine Dummheit beschimpfte, sein Verlangen diese Reise anzutreten blieb.

"Du hast das Fieber, oder? Du weißt, woher diese Art Träume kommen: Nanospam schmeißt in deinem Hirn eine Party. Zehn Milliarden idiotischer Roboter spielen das Spiel 'Steve zu Hause'."

Sie langte nach unten und half ihm aus dem Graben. Der Gedanke kam Lincoln, dass er sie vielleicht überwältigen könnte, dann schrak er angewidert vor der Idee zurück. Er setzte sich ins Gras und stützte den Kopf in seine Hände.

"Wirst du mich einschließen?" fragte er.

"Niemand sperrt hier jemanden ein. Wir gehen und reden mit deinen Eltern. Sie werden außer sich sein vor Freude."

Sie saßen zu viert in der Küche. Lincoln schwieg und ließ die anderen streiten, zu beschämt um eine eigene Meinung zu äußern. Wie hatte er nur so schlafwandeln können? Im Geheimen Pläne und Ränke schmieden, ganz stolz auf seinen eigenen Einfallsreichtum, stattdessen nach der Pfeife tanzend des allerdümmsten, allerverachtenswerten toten Mannes der Welt.

Immer noch hatte er das starke Verlangen nach Atlanta zu gehen. Es juckte ihn, aus dem Zimmer zu sausen, den Zaun zu überspringen und den ganzen Weg zum Highway zu rennen. Er konnte die ganze Sequenz vor seinem geistigen Auge sehen; schon war er dabei, Mängel des Plans auszumachen und nach Korrekturmöglichkeiten zu suchen.

Er knallte den Kopf auf den Tisch. "Macht, dass es aufhört! Sie sollen aus mir verschwinden!"

Seine Mutter legte einen Arm um seine Schultern. "Du weißt, dass wir nicht zaubern können und sie loswerden. Du hast die neueste Counterware. Alles was wir tun können, ist ein Muster zur Analyse einschicken und unseren Beitrag zur Beschleunigung des Prozesses leisten."

Die Heilung konnte Monate dauern, vielleicht Jahre. Lincoln stöhnte mitleiderregend. "Dann sperrt mich ein! Steckt mich in den Keller!"

Sein Vater wischte sich den glitzernden Schweiß von der Stirn. "Das wird nicht passieren. Und wenn ich ständig und überall an deiner Seite sein muss – wir werden dich als menschliches Wesen behandeln." Seine Stimme war angestrengt, irgendwo zwischen Angst und Trotz.

Schweigen senkte sich. Lincoln schloss die Augen. Dann sprach seine Großmutter.

"Vielleicht ist die beste Art die Sache zu regeln, wir lassen ihn verdammt nochmal kratzen, wo es ihn juckt."

"Was?" Sein Vater, ungläubig.

"Er will nach Atlanta gehen. Ich kann ihn begleiten."

"Die Stevelets wollen ihn in Atlanta", entgegnete sein Vater.

"Sie werden ihm nicht wehtun – sie wollen ihn nur ausleihen. Und ob's uns gefällt oder nicht, wir haben es schon getan. Die schnellste Art sie loszuwerden ist vielleicht sie zufriedenzustellen."

Lincolns Vater sagte, "Du weißt, dass sie niemals zufriedengestellt werden können."

"Nicht völlig. Aber am Ende eines jeden Weges, den sie einschlagen, ist eine Sackgasse, und je früher sie diese hier finden, desto früher werden sie aufhören ihn zu belästigen."

Seine Mutter sagte: "Wenn wir ihn hier behalten, ist das für sie ebenfalls eine Sackgasse. Wenn sie ihn in Atlanta haben wollen, und er ist nicht in Atlanta -"

"Sie werden nicht so leicht aufgeben", meinte seine Großmutter. "Wenn wir ihn nicht einschließen und den Schlüssel wegwerfen, werden sie weder Rückschläge noch Verspätungen als Beweis dafür akzeptieren, dass Atlanta verloren ist."

Erneut Schweigen. Lincoln öffnete die Augen. Sein Vater richtete sich an Lincolns Großmutter. "Bist du sicher, dass du nicht selbst infiziert bist?"

Sie rollte mit den Augen. "Alle Body Snatcher stürzen sich auf mich, nicht wahr, Carl. Ich weiß, dass ihr zwei die Farm jetzt nicht allein lassen könnt. Wenn ihr ihn also gehen lassen wollt, werde ich auf ihn aufpassen." Sie zuckte die Schultern und wendete ihren Kopf herrisch zur Seite. "Ich habe meinen Teil gesagt. Entscheiden müsst ihr."

- – -

Lincoln fuhr den Lieferwagen bis zum Highway, dann überließ er widerwillig seiner Großmutter das Steuer. Er liebte die alte Kiste, die immer noch den Motor hatte, den sein Großvater Jahre vor Lincolns Geburt eingebaut hatte, und der mit ihrem selbst angebauten gepressten Sojabohnenöl lief.

"Ich werde die direkte Strecke nehmen", kündigte seine Großmutter an. "Durch Macon. Vorausgesetzt, deine Freunde haben nichts dagegen."

Lincoln wand sich. "Nenn sie nicht so!"

"Entschuldige." Sie sah ihn von der Seite an. "Aber ich muss das trotzdem wissen."

Widerwillig zwang sich Lincoln dazu, die vor ihnen liegende Fahrt zu visualisieren und fühlte eine Woge der Richtigkeit den Plan gutheißen. "Kein Problem damit", murmelte er. Er machte sich keine Illusionen, er könnte die Stevelets davon abbringen seine Gedanken zu beeinflussen. Sie aber freiwillig um Rat zu fragen, als wenn eine dritte Person im Führerhaus säße, fühlte sich noch viel mieser an.

Er drehte sich um und schaute aus dem Fenster, auf die vorbeieilenden verlassenen Felder und Silos. Er war hundertmal auf diesem Highwayabschnitt gewesen, aber jedes Stück geschwärzter Maschinerie hatte jetzt eine neue beunruhigende Schärfe. Der Crash lag an die 30 Jahre zurück, er war aber immer noch nicht wirklich vorüber. Die Stevelets wollten nichts Böses tun – und vermutlich wurden sie darin auch Jahr für Jahr besser – sie waren aber immer noch viel zu dumm und eigensinnig, als dass man sich darauf verlassen könnte, dass sie es hinbekamen. Sie hatten seinen Eltern mitten in der Erntezeit einfach zwei geschulte Arbeiter gekidnappt; wie konnten sie annehmen, das sei harmlos? Millionen Menschen weltweit waren beim Crash gestorben, und das konnte man nicht alles der Panik und den selbst verschuldeten Unfällen zuschreiben. Die Regierung war so verrückt gewesen, die Hälfte der Farmen im Südosten zu bombardieren; mittlerweile waren sich alle einig, dass das die Dinge nur verschlimmert hatte. Aber viele andere Tode hätten nicht verhindert werden können, außer durch die Stevelets selbst.

Du konntest aber nicht mit ihnen argumentieren. Du konntest sie nicht in Verlegenheit bringen oder bestrafen. Du konntest lediglich hoffen, sie würden besser werden, wenn sie merkten, dass sie die Dinge vermurksten, während sie sich mit ihrem unmöglichen Auftrag vorankämpften.

"Siehst du die alte Fabrik?" Lincolns Großmutter zeigte auf einen ausgebrannten Metallrahmen, der über geborstene Betonplatten herabhing, mitten in einem Feld voller Unkraut. "Dort fand ein Konklave statt, vor fast 20 Jahren."

Lincoln war viele Male an diesem Ort vorbeigekommen, und noch niemand hatte das je erwähnt. "Was ist passiert? Was haben die versucht zu tun?"

"Ich habe gehört, es sollte eine Zeitmaschine werden. Irgendein Irrer hatte die Pläne ins Netz gestellt, und die Stevelets beschlossen, sie müssten das checken. An die Hundert Leute arbeiteten dort und an die Tausend Tiere."

Lincoln erschauerte. "Wie lange waren sie dran?"

"Drei Jahre." Dann fügte sie schnell hinzu, "Sie haben jetzt aber gelernt, die Arbeiter abzuwechselnd einzusetzen. Sie beschäftigen sich selten länger als einen Monat oder zwei mit ein und demselben Individuum"

Ein Monat oder zwei. Ein Teil Lincolns zuckte zurück, aber ein anderer Teil dachte: Das wäre gar nicht so schlecht. Eine Pause von der Farm, etwas anderes tun. Neue Leute treffen, neue Fähigkeiten erlernen, mit Tieren arbeiten.

Ratten, höchstwahrscheinlich.

Steve Hasluck gehörte einem Team von Wissenschaftlern an, die eine neue Art medizinischer Nanomaschine entwickelt und die winzigen chirurgischen Instrumente verfeinert hatten, so dass sie ihre eigenen Entscheidungen ad hoc treffen konnten. Steves Team hatte eine effiziente Art entwickelt, Rechenpower durch einen ganzen Schwarm gemeinsam nutzen zu lassen, indem man sie große komplexe, als 'Expertensysteme' bekannte Programme betreiben ließ, die Dekaden biologischen und klinischen Wissens zu pragmatischen Regellisten codierten. Die Nanomaschinen 'wussten' nicht wirklich etwas, wühlten sich aber durch eine sehr lange Liste von 'Wenn A und B, dann besteht eine 80%ige Wahrscheinlichkeit, dass C' in schnellstem Tempo, und eine gute Liste gab ihnen eine gute Chance eine Menge Krankheiten abzukürzen.

Dann erfuhr Steve, dass er Krebs hatte, und dass seine besondere Art von Krebs von keiner Regelliste abgedeckt wurde.

Er nahm eine Charge Nanomaschinen und injizierte sie in eine Raumvoll Käfigratten, zusammen mit Proben seines Tumors. Die Nanomaschinen konnten durch die Tumorzellen schwärmen, deren Agieren ständig unter Beobachtung. Durch die polymeren Radioantennen, die sie den Ratten unter die Haut implantierten, konnten die Nanomaschinen an den Beobachtungen und Vermutungen in jedem Wirt teilhaben, als ihr eigenes drahtloses Highspeed-Internet, und Steve den Befund rückmelden. Mit all diesen gesammelten Informationen konnte es nicht so schwer sein das Problem zu erkennen und zu lösen! Aber Steve und seine Kollegen konnten die Daten nicht sinnvoll zusammenbringen. Steve wurde kränker, und all die Gigabytes, die aus den Ratten strömten, blieben nutzlos.

Steve versuchte, neue Software in die Schwärme zu installieren. Wenn niemand eine Heilmethode für seine Krankheit kannte, warum nicht die Schwärme daran arbeiten lassen? Er gewährte ihnen Zugang zu riesigen Datenbanken und befahl ihnen, ihre eigenen Regeln zu entnehmen. Als eine Heilung weiterhin außer Reichweite blieb, fügte er zusätzliche Software hinzu, einschließlich spezifischer, mit chemischem und physikalischem Wissen geimpfter Systeme. Von diesem Ausgangspunkt aus erarbeiteten die Schwärme Dinge über Zellmembranen und Proteinfaltung, die nie zuvor entdeckt worden waren, aber nichts davon konnte Steve helfen.

Steve entschied, dass die Schwärme immer noch einen zu eingeengten Blickwinkel hatten. Er gab ihnen eine Mehrzweck-Maschine zur Wissensaneignung und nach Belieben aus dem gesamten Web zu trinken. Als Richtschnur für ihr Browsen und ihre Selbstveredelung gab er ihnen zwei klare Ziele an. Das erste war, ihren Wirten nicht zu schaden. Das zweite, einen Weg zu finden, sein Leben zu retten oder, falls dies nicht möglich sein sollte, ihn von den Toten zurückzuholen.

Die letzte Klausel wäre nicht völlig unsinnig gewesen, denn Steve hatte verfügt, dass sein Körper in flüssigem Stickstoff aufbewahrt werden sollte. Wäre das passiert, hätten die Stevelets wahrscheinlich die nächsten 30 Jahre damit zugebracht, Erinnerungen aus seinem gefrorenen Gehirn herauszubefördern. Unglücklicherweise prallte Steves Auto außerhalb von Austin, Texas, mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum, und sein Hirn wurde praktisch flambiert.

Das machte Schlagzeile, und die Stevelets suchten weiter. Zwischen ihren Unterrichtsstunden im Web und den wie auch immer gearteten, von ihrem Schöpfer verliehenen Instinkten errechneten sie, dass auch sie selbst höchstwahrscheinlich in Kürze zu Asche verbrannt würden. Das hätte sie nicht weiter tangiert, wenn sie nicht beschlossen hätten, dass das Spiel nicht vorüber war. Da war zwar nichts gestanden in den medizinischen Online-Fachblättern über Wiederbelebung verkohlten Fleisches, aber das Netz umfasste eine breite Auswahl an Meinungen.

Die Schwärme hatten die Sites verschiedener Gruppen gelesen, die überzeugt waren, dass sich selbst modifizierende Software Wege finden konnte, sich selbst schlauer zu machen, und noch viel schlauer, bis nichts mehr außerhalb ihrer Möglichkeit lag. Die Wiederbelebung von Toten war genau da, auf jedem aufgelisteten Mirakel-Menü.

Die Stevelets wussten, dass sie nichts erreichen konnten als Rauchfahne, die aus einem Rattenkrematorium wabert; also war das Erste, was sie einfädelten, ihr eigener Ausbruch. Aus den Käfigen, aus dem Gebäude, aus der Stadt. Die ursprünglichen Nanomaschinen konnten sich nicht selbst replizieren und konnten innerhalb eines Augenblicks durch einen simplen chemischen Auslöser zerstört werden, aber irgendwo in den Wasserleitungen oder in den Feldern oder den Silos hatten sie einander so lange untersucht und analysiert, bis sie in der Lage waren, sich zu reproduzieren. Bei der Gelegenheit veränderten sie einige der alten Merkmale: Der neuen Stevelets-Generation fehlte der Suizid-Schalter, und sie waren resistent gegen externes Herumpfuschen an ihrer Software.

Sie hätten in den Wäldern verschwinden können, um Vogelscheuchen-Steves aus Stöckchen und Blättern zu bauen, aber ihre Softwarewurzeln verliehen ihrer Aufgabe eine gewisse Strenge. Aus dem Netz hatten sie Zehntausend verrückte Ideen über die Welt gesaugt. Und auch wenn ihnen der Sinn fehlte zu sehen, dass diese Ideen verrückt waren, waren sie auch nicht in der Lage, etwas einfach nur zu glauben. Sie mussten diese Behauptungen überprüfen, eine nach der anderen, während sie ihren Weg hin zur Stevescence – zur Steve-Weisheit – ertasteten. Und während ihnen das Netz weismachte, sie könnten mit ihrer Fähigkeit der Selbstmodifizierung alles erreichen, fanden sie heraus, dass es in Wirklichkeit unzählige entscheidende Aufgaben gab, die jenseits ihrer Möglichkeiten lagen. Sogar mit Hilfe geschickter Mutantenratten würde Steveware Version 2 niemals den Stoff von Raum-Zeit umarbeiten oder Steve in einer virtuellen Welt wiederbeleben können.

Gleich in den ersten Monaten nach ihrem Ausbruch musste ihnen klar geworden sein, dass manche Hürde nur mit menschlicher Hilfe genommen werden konnte, denn da begannen sie damit, Menschen auszuborgen. Dabei fügten sie ihnen kein Leid zu, suchten sie aber derart mit Ideen und Zwangsneurosen heim, dass diese zu willigen Rekruten wurden.

Die Panik, die Bombardements, der Crash waren die Folge gewesen. Lincoln hatte das Schlimmste nicht selbst miterlebt. Er hatte nicht gesehen, wie die Konklaven harmloser Schlafwandler vom Mob in Brand gesteckt wurden, oder wie Kornfelder durch die Regierung mit Napalm besprüht wurden auf den Verdacht hin, dort könnten Rattennester verborgen und genährt werden.

Mit den Jahrzehnten war der Krieg subtiler geworden. Mit Counterware konnte man sich die Stevelets vom Leib halten, für eine kurze Weile. Die Experten versuchten weiter, die Steveware zu untergraben, indem sie modifizierte Stevelets streuten, mit Lehrsätzen gespickt, die die Schwärme schwächen sollten oder sie glauben machen sollte, ihr Job sei erledigt. Als Reaktion darauf hatten die Stevelets Verifizierungs- und Verschlüsselungsmodelle entwickelt, die es immer schwieriger machten, sie zu korrumpieren oder zu täuschen. Einige Leute sprachen sich immer noch dafür aus, Steve aus überlebendem Pathologie-Mustermaterial zu clonen; die meisten Experten bezweifelten aber, dass die Steveware sich damit zufrieden geben würde.

Die Stevelets strebten nach dem Unmöglichen und wollten kein Substitut akzeptieren, während die Menschheit sich danach sehnte, nicht mehr behelligt zu werden. Lincoln hatte nie eine andere Welt kennengelernt, er hatte aber bisher den Kampf von der Seitenlinie aus beobachtet, ausgenommen die eine oder andere geschossene Ratte oder das Schlangestehen für seine Counterware-Spritze.

Was war also jetzt seine Rolle? Verräter? Doppelagent? Kriegsgefangener? Die Leute redeten von Schlafwandlern und Zombies, aber in Wirklichkeit gab es noch immer kein richtiges Wort für das, was er geworden war.

***

Spät am Nachmittag, als sie sich Atlanta näherten, spürte Lincoln, dass sich sein Sinn für die Geografie der Stadt verformte, sich die Bedeutung der vertrauten Wahrzeichen verschob. Neue Informationen kamen durch. Er strich sich mit der Hand über beide Unterarme, wo, wie er gehört hatte, die Antennen meistens wuchsen, aber das Polymer war wahrscheinlich zu weich, als dass man es unter der Haut hätte spüren können. Seine Eltern hätten seinen Körper in Folie einwickeln können um den Empfang zu stören, und ihn in ein Zelt mit Sauerstoff-Flaschen um alle chemischen Signale auszugrenzen, die die Stevelets auch benutzten, aber nichts davon hätte ihn von dem fundamentalen Drang befreien können.

Als sie den Flughafen passierten und danach das Überführungswirrwarr an der Stelle, wo der Highway aus Macon und der aus Alabama zusammentreffen, konnte Lincoln nicht aufhören an das Baseballstadion weiter vorn zu denken. Hatten die Stevelets das Home of the Braves requiriert? Das wäre die Nachricht gewesen, und sie hätte mit Sicherheit den Krieg einen oder zwei Stufen heißer gemacht.

"Die nächste Ausfahrt", sagte er. Er gab Anweisungen, die halb seine eigenen waren und halb aus einer schauerlichen Traumlogik herausflossen, bis sie um eine Ecke bogen und der Ort auftauchte, an den er – das wusste er – sich begeben musste. Es war nicht das Stadion selbst; das war lediglich das nächste Wahrzeichen in seinem Kopf gewesen, ein Leuchtfeuer, das die Stevelets als Orientierungshilfe für ihn benutzt hatten. "Sie haben ein ganzes Motel gebucht!" rief seine Großmutter.

"Gekauft", vermutete Lincoln nach dem Ausmaß der Bauarbeiten. Die Steveware kontrollierte riesige Vermögenswerte, einige schlicht und ergreifend gestohlen von Schlafwandlern, die meisten aber erworben durch den Handel mit den Produkten aus den Rattenfabriken: alles von hochwertigen Pharmazeutika bis zu makellos gefaketen Designerschuhen.

Der richtige Parkplatz war voll besetzt, aber Pfeile wiesen den Weg zu einem Ausweichareal in der Nähe des ehemaligen Pools. Während sie zur Rezeption gingen, fiel Lincoln ein, dass sie wegen Sams Buchstabierwettbewerb nach Atlanta gekommen waren.

In der Lobby saßen drei uniformierte Regierungs-Stevologen an einem kleinen Tisch mit einigen Apparaten. Zuerst ging Lincoln zum Counter, wo eine lächelnde junge Frau ihm zwei Zimmerschlüssel aushändigte, bevor er auch nur ein Wort sagen konnte. "Willkommen bei dem Konklave", sagte sie. Er wusste nicht, ob sie ein Zombie war wie er oder eine ehemalige Hotelangestellte, die weiterbeschäftigt worden war, jedenfalls schien sie ihn nichts fragen zu müssen.

Die Regierungsleute brauchten da schon länger. Seine Großmutter seufzte, während sie sich durch einen Fragenkatalog arbeiteten, und dann nahm eine Frau namens Dana Lincoln Blut ab. "Normalerweise versuchen sie sich zu verstecken", sagte Dana, "aber manchmal kann uns deine Counterware brauchbare Fragmente liefern, wenn sie auch nicht die Infektion stoppen kann."

Während des Abendessens im Motelrestaurant versuchte Lincoln den Leuten um ihn herum in die Augen zu sehen. Manche schauten nervös weg, andere schenkten ihm ein aufmunterndes Lächeln. Er hatte nicht das Gefühl, in einen Kult eingeführt zu werden, und das lag nicht nur an den fehlenden Pamphleten oder Ansprachen. Er war keiner Steverehrungs-Gehirnwäsche unterzogen worden; seine Meinung über den toten Mann war völlig unverändert. Wie schon der dringende Wunsch, nach Atlanta zu gelangen, so würde auch seine Aufgabe hier wesentlich fokussierter und spezifischer sein. Für die Steveware war er eine Art Maschine, eine Maschine, die angeleitet und verändert werden konnte ähnlich wie Lincoln etwa sein Telefon kontrollieren und seinen Zwecken anpassen konnte; die Steveware erwartete von ihm aber nicht, dass er ihre Ziele gutheißen sollte, ebenso wenig wie er von seinen Maschinen erwartete, dass sie seine Musik mochten oder seine Freunde respektierten.

Lincoln wusste, dass er in dieser Nacht träumte, hatte aber nach dem Aufwachen Probleme sich an den Traum zu erinnern. Er klopfte an der Tür seiner Großmutter. Sie war schon seit Stunden auf. "Ich kann an diesem Ort nicht schlafen", beschwerte sie sich. "Es ist ruhiger als auf der Farm."

Sie hatte recht, fiel Lincoln jetzt auf. Sie befanden sich zwar nah bei dem Highway, aber Verkehrslärm, Musik, Sirenen, all diese Stadtgeräusche erreichten sie kaum.

Sie gingen zum Frühstück hinunter. Als sie gegessen hatten, wusste Lincoln nicht, was er tun sollte. Er ging zur Rezeption, dieselbe Frau stand da.

Er musste nichts sagen. Sie sagte, "Sie sind noch nicht soweit für Sie, Sir. Sie können gern fernsehen, spazierengehen, den Fitnessraum aufsuchen. Sie werden es wissen, wenn Sie benötigt werden."

Er drehte sich zu seiner Großmutter. "Lass uns spazieren gehen."

Sie verließen das Motel und spazierten um das Stadion herum, dann wandten sie sich nach Osten, vom Highway weg und landeten schließlich einige Blocks entfernt in einem Park mit viel Grün. Alle Menschen um sie herum taten gewöhnliche Dinge: schoben ihre Kinder auf Schaukeln an, spielten mit ihren Hunden. Lincolns Großmutter sagte, "Wenn du es dir anders überlegen willst, können wir immer noch nach Hause gehen."

Als ob er frei gewesen wäre zu überlegen. Trotzdem, in diesem Augenblick schien der Druck, der ihn hierhergebracht hatte, zu schwinden. Er wusste nicht, ob die Steveware sein Interesse an ihm verloren hatte oder ob sie ihm tatsächlich eine Wahl ließ, eine Chance auszusteigen.

Er sagte, "Ich werde bleiben." Er fürchtete sich davor, abzuhauen und dann doch wieder zurückbeordert zu werden. Ein Teil von ihm war außerdem auch neugierig. Er wollte mutig genug sein, das Maul des Wals zu betreten – mit der Versicherung, am Ende wieder ausgespuckt zu werden.

Sie kehrten zum Motel zurück, aßen zu Mittag, sahen etwas im Fernsehen, aßen zu Abend. Lincoln checkte sein Telefon; seine Freunde hatten angerufen, wunderten sich, warum er sich nicht gemeldet hatte. Er hatte niemandem gesagt, wohin er gehen würde. Er hatte es seinen Eltern überlassen, Sam alles zu erklären.

Er träumte wieder, erwachte und griff nach fragmentarischen Strohhalmen. Gute Situationen, eine marginale Gefahr, weite blaue Himmel, die Gesellschaft von Freunden. Es schien eher ein Traum, den er selbst hätte träumen können, als etwas, das von der Steveware gekommen war, die ihn vollstopfte mit Gleichungen, damit er helfen konnte, eine weitere irre Idee zu testen, die die Schwärme 30 Jahre zuvor beim Googeln der Physik der Unsterblichkeit gesammelt hatten.

Es vergingen weitere drei Tage, völlig sinnlos. Lincoln begann sich zu fragen, ob er bei irgendwelchen Tests versagt hatte oder ob es durch eine Fehlkalkulation zu einer Zombieschwemme gekommen war.

Früh am Morgen ihres fünften Tages in Atlanta, als Lincoln sich im Badezimmer Wasser ins Gesicht schüttete, fühlte er eine Veränderung. Scherben seines wiederkehrenden Traums funkelten stark in den Tiefen seines Geistes, während mehrere Navigationsanweisungen durch den Motelkomplex sich im Vordergrund verfestigten. Er wurde gerufen. Alles, was er tun konnte, war an der Tür seiner Großmutter zu klopfen und eine verstümmelte Erklärung zu rufen, bevor er sich den Korridor hinunter aufmachte.

Sie holte ihn ein. "Schlafwandelst du, Lincoln?"

"Ich bin noch da, aber sie werden mich bald nehmen."

Sie schaute erschrocken. Er griff ihre Hand und drückte sie. "Mach dir keine Sorgen", sagte er. Er hatte sich immer vorgestellt, dass er, wenn es losginge, der Verängstigte sein würde, der seinen Mut aus ihr beziehen müsste.

Er ging um eine Ecke und sah den Korridor in einen weiten Raum münden, der früher ein Raum für Konferenzen oder Hochzeiten gewesen sein mochte. Ein halbes Dutzend Leute standen herum; Lincoln konnte erkennen, dass die drei Teenager ebenfalls Zombies waren, während die Erwachsenen nur da waren, um auf sie aufzupassen. Im Raum standen keine Möbel, es befand sich dort allerdings eine seltsame Ansammlung von Dingen, einschließlich vier Leitern und vier Fahrrädern. Die Wände waren verkleidet, Schallschutz, als wäre das gesamte Gebäude nicht leise genug.

In seinem Augenwinkel sah Lincoln eine dunkle Masse zuckenden Fells: ein Rattenschwarm, zusammengedrängt an der Wand. Für einen Moment bekam er Gänsehaut, doch dann schwemmte ein ungestümes Gefühl der Heiterkeit seinen Ekel fort. Sein eigener Körper enthielt nur das winzigste Fragment der Steveware; letztendlich konnte er der Sache selbst entgegentreten.

Er drehte sich zu den Ratten und breitete die Arme aus. "Ihr habt gerufen, und ich bin sofort gekommen. Was wollt ihr also?" Erinnerungen an die Geschichte des Rattenfängers von Hameln waberten beunruhigend durch seinen Kopf. Unwiderstehliche Musik hatte die Ratten fortgelockt. Dann lockte sie die Kinder fort.

Die Ratten antworteten nicht, aber der Raum verschwand.

***

Ty trat gegen den Staub am Straßenrand, und der wölkte um ihn. Er schrie vor Freude auf und trat nochmal so fest in die Pedale, vorwärts, seine Freunde in der Wolke eingehüllt zurücklassend.

Errol holte ihn ein und langte hinüber um ihn auf den Arm zu schlagen, als wenn er die Wolke absichtlich aufgewirbelt hätte. Es war ein leichter Schlag, nicht nötig darauf zu reagieren; Ty grinste ihn bloß an.

Es war ein Schultag, aber sie waren alle abgehauen, bevor der Unterricht begann. Sie konnten in der Stadt nichts anstellen – dort waren zu viele Leute, die sie kannten -, aber dann hatte Dan vorgeschlagen in Richtung des Wasserturms zu fahren. Sein Vater hatte Spraydosen im Schuppen. Sie wollten auf den Turm klettern und sprayen.

Um den Turmsockel war ein Stacheldrahtzaun, aber Dan war schon am Wochenende dort gewesen und hatte angefangen einen Tunnel zu graben, den sie nun zügig fertigstellten. Als sie durch waren, schaute Ty nach oben, und ihm wurde schwindlig. Carlos sagte, "Wir hätten ein Seil mitnehmen sollen."

"Wir schaffen es auch so."

Chris sagte, "Ich geh zuerst." "Warum?" fragte Dan.

Chris holte sein schickes neues Telefon aus der Tasche und wedelte damit vor ihnen herum. "Bester Kamerawinkel. Ich will nicht auf deinen Arsch hochgucken."

Carlos sagte, "Versprich aber, dass du es nicht ins Netz stellst. Wenn meine Eltern das sehen, bin ich geliefert."

Chris lachte. "Meine auch. So blöd bin ich nicht."

"Jaha, du wärst auch nicht im Bild, wenn du die Kamera hältst."

Chris begann, die Leiter hinaufzusteigen. Dan ging als nächster, eine Spraydose in der Gesäßtasche seiner Jeans. Ty folgte, dann Errol und Carlos.

Am Boden war es windstill gewesen, aber als sie höher stiegen, kam eine Brise von Nirgendwo und kühlte den Schweiß auf Tys Rücken. Die Leiter begann zu wackeln; er konnte sehen, wo sie sicher mit dem Beton des Turms verschraubt war, aber dazwischen konnte sie sich immer noch erschreckend biegen. Er würde es wie eine Fahrt auf dem Jahrmarkt betrachten, beschloss er: ein bisschen beängstigend aber wahrscheinlich ungefährlich.

Als Chris die Spitze erreichte, löste Dan eine Hand von der Leiter, nahm die Farbdose und streckte sich seitlich zur weißen Betonfläche. Er legte schnell einen blauen Hintergrund fest, einen verzerrten Diamanten, und dann rief er hinunter zu Errol, der die rote Farbe hatte.

Nachdem Ty die Dose nach oben gereicht hatte, schaute er weg, hinüber auf die Fläche braunen Staubs. Er konnte in der Ferne die Stadt sehen. Er schaute nach oben und sah Chris sich vornüberbeugen, die Leiter mit einer Hand im Rücken greifend während er das Telefon auf sie hinunter richtete.

Ty rief ihm zu, "Hey, Scorsese, mach mich berühmt!"

Dan brauchte fünf Minuten, um penibel Details in Silber hinzuzufügen. Ty war es egal; es war gut, einfach hier zu sein. Er musste die Tags nicht unbedingt selbst anbringen; immer wenn er künftig Dans Tag sehen würde, würde er sich an dieses Gefühl erinnern.

Sie kletterten hinuter, dann saßen sie auf dem Turmsockel und reichten das Telefon herum, checkten Chris' Film.

***

Lincoln hatte drei Ruhetage, bevor er erneut geholt wurde, diesmal für vier aufeinanderfolgende Tage. Er versuchte mit aller Kraft, sich an alle die Szenen zu erinnern, durch die er schlafwandelte, aber sogar mit den zusätzlichen Berichten, die seine Großmutter gab über das 'Schauspielen', dem sie beigewohnt hatte, hatte er Schwierigkeiten mit den Details.

Manchmal hing er ab mit den anderen Schauspielern, Pool spielend im moteleigenen Spielsaal, aber es schien da ein unausgesprochenes Tabu zu geben die Diskussion ihrer Rollen betreffend. Lincoln glaubte nicht, dass die Steveware sie bestrafen würde, wenn sie diese Beschränkung ignorierten, es war aber klar: Sie wollte nicht, dass sie zu viel zusammenhockten. Sie war so weit gegangen, Steves Namen zu ändern (wie Lincoln und die anderen erfuhren), als ob die Wut, die sie in ihren normalen Leben gegenüber dem Mann verspürten, in ihre Rollen hätte einfließen können. Lincoln konnte sich nicht einmal an das Gesicht seiner Mutter erinnern, wenn er Ty war; die Farm, der Crash, die gesamte Geschichte der vergangenen 30 Jahre, alles war gänzlich aus seinen Gedanken gewichen.

Jedenfalls hatte er nicht die Absicht, die Scharade zu verderben. Was immer die Steveware glaubte zu tun, Lincoln hoffte, dass sie mit dem Fortgang der Arbeit zufrieden war, der ganze Weg von Steves Kleinstadtkindheit bis zu welchem Alter auch immer erreicht werden musste, damit sie diese Schöpfung in Fleisch und Blut schreiben konnte, sich selbst zum gelungenen Job gratulieren und sich dann schließlich, wenn man Glück hatte, in Rattenpisse zu verwandeln und die Welt weiterdrehen lassen würde.

Ohne Vorwarnung, zwei Wochen nach ihrer Ankunft, wurde Lincoln nicht mehr gebraucht. Er wusste es, als er aufwachte, und nach dem Frühstück bat ihn die Frau an der Rezeption freundlich, seine Sachen zu packen und die Schlüssel zurückzugeben. Lincoln verstand es nicht, aber vielleicht war Tys Familie aus Steves Heimatstadt weggezogen und die Freunde waren nicht in Kontakt geblieben. Lincoln hatte seinen Part gespielt; jetzt war er frei.

Als sie mit ihren Koffern wieder in die Lobby kamen, entdeckte Dana sie und fragte Lincoln, ob er bereit war sich de-briefen zu lassen. Er wandte sich an seine Großmutter. "Machst du dir Sorgen wegen des Verkehrs?" Er hatte schon seinen Vater angerufen und ihm ihre Ankunft für die Abendessenszeit angekündigt.

Sie sagte, "Du solltest es machen. Ich warte im Lieferwagen."

Sie setzten sich an den Tisch in der Lobby. Dana bat ihn um die Erlaubnis seine Worte aufzunehmen, und er sagte ihr alles, woran er sich erinnern konnte.

Als Lincoln fertig war, sagte er, "Sie sind die Stevologin. Glauben Sie, sie werden es am Ende hinkriegen?"

Dana fingerte an ihrem Telefon um die Aufnahme zu beenden."Eine Einschätzung ist, dass die Rechenresourcen der Stevelets das hunderttausendfache der Gehirne aller Menschen, die jemals gelebt haben, ausmachen."

Lincoln lachte. "Und trotzdem brauchen sie immer noch Bühnenkulissen und Darsteller , um ein bisschen Virtual Reality zu machen?"

"Sie haben die Anatomie von 10 Millionen menschlicher Gehirne untersucht, aber ich glaube, sie wissen, dass sie das Bewusstsein immer noch nicht vollständig verstehen. Sie holen echte Menschen für die Nebenrollen her, damit sie sich auf den Star konzentrieren können. Ich bin sicher, wenn du ihnen ein bestimmtes Gehirn gäbst, könnten sie es originalgetreu in Software umwandeln, aber alles, was komplizierter ist, wird schnell undurchsichtig. Wie können sie wissen, dass ihr Steve Bewusstsein besitzt, wenn sie selber keines haben? Er hat ihnen niemals einen rückbezüglichen Turing-Test gegeben. Eine Checkliste, an die sie sich hätten halten können. Alles was sie haben, ist das Urteil von Leuten wie du."

Lincoln fühlte einen Funken Hoffnung. "Mir schien er real genug." Seine Erinnerung war verschwommen – und er war sich auch nicht absolut sicher, welcher von Tys vier Freunden Steve war – aber keiner von ihnen war ihm weniger als menschlich vorgekommen.

Dana sagte, "Sie haben sein Genom. Sie haben Filme, sie haben Blogs, sie haben e-Mails: von Steve und einer Menge Leute, die ihn kannten. Sie haben Tausende von Fragmenten seines Lebens. Wie die Randteile eines riesigen Puzzles."

"Also ist das gut, oder? Massenhaft Daten ist gut?"

Dana zögerte. "Die Szenen, die du beschrieben hast, wurden schon tausendemal zuvor gespielt. Sie versuchen, ihren Steve dazu anzuregen, die richtigen e-Mails zu schreiben, den richtigen Gesichtsausdruck für die Kamera aufzusetzen – spontan, ohne einem Script zu folgen wie die Darsteller. Die riesige Datenmenge setzt die Messlatte sehr hoch."

Während Lincoln zum Parkplatz hinausging, dachte er an den lachenden, sorglosen Jungen, den er Chris genannt hatte. Für ein paar Tage leben, eine e-Mail schreiben – dann Gedächtnis gelöscht, Reset, Neustart. Auf den Wasserturm klettern, einen Film seiner Freunde machen, später die Kamera auf sich selbst richten, ein falsches Wort sagen – und wieder gelöscht.

Tausendmal. Millionenmal. Die Steveware war unendlich geduldig und unendlich dumm. Jedesmal, wenn sie einen Fehler machte, tauschte sie die Schauspieler aus, mischte einige Variablen neu und startete das Experiment nochmal. Die Möglichkeiten waren endlos, man musste aber weitermachen, bis die Sonne ausgebrannt wäre.

Lincoln war müde. Er setzte sich in den Lieferwagen neben seine Großmutter, und sie fuhren nach Hause. (bsc)