Was das Handy von uns weiß

Der MIT-Professor Sandy Pentland will Mobiltelefone als ständig aktive Sensoren nutzen und so soziale Netzwerke im Rechner abbilden.

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Von
  • Kate Greene

Vor wenigen Jahren startete Sandy Pentland, Professor für Medienkunst und Medienwissenschaft am MIT, einen interessanten Versuch: Er gab gut 100 Nokia-Handys an Studenten und Institutsangehörige aus, die mit einer Software ausgestattet waren, die die Interaktionen zwischen den Trägern speicherte. Basierend auf den Gesprächdaten und dem Abstand zwischen den Handys der Testpersonen, die sich über Bluetooth ermitteln ließen, entwickelten Pentland und sein Kollege Nathan Eagle Modelle sozialer Netzwerke. Es ergab sich, dass diese Untersuchung mittels technischer Sensoren genauer war, als die in Fragebögen ermittelten Selbstaussagen der Teilnehmer.

Die Untersuchung von Mobilfunkdaten, um den echten sozialen Interaktionen der Menschen auf die Spur zu kommen, fällt in ein aufstrebendes Forschungsgebiet, das Pentland selbst "Reality Mining" nennt. Und er glaubt, dass die Erfassung solcher Netzwerke nur der Anfang ist. Ähnliche Techniken könnten auch eingesetzt werden, um die Kommunikation effizienter zu gestalten, ein besseres Zeitmanagement von Angestellten zu ermöglichen oder gar ein ganzes Stadtviertel lebenswerter zu gestalten. Pentland sprach mit Technology Review über das Handy als Sensor – und warum er Mobiltelefone für die "ultimative Datenerfassungsmaschine" hält.

Technology Review: Herr Pentland, wenn Sie von "Reality Mining" sprechen, was meinen Sie damit genau?

Sandy Pentland: Die wahren Wurzeln der Technik sind zu Beginn der Neunzigerjahre zu finden, als die Leute erstmals damit begannen, über Computer zu sprechen, die Umgebungsdaten erfassen. Dazu muss man nur auf das Handy schauen: Es weiß wo man ist – und das ist selbstverständlich an sich schon irgendwie sehr nützlich.

Man schaue sich nur das soziale Netzwerk Facebook und das dortige Konzept von "Freunden" an. Das Handy könnte hier für uns ermitteln, mit welchen dieser Personen man sich persönlich trifft, wer ein Arbeitskollege ist und wen man niemals im echten Leben gesehen hat. Das ist eine interessante Unterscheidung – und das Reality Mining könnte solche Vorgänge automatisieren.

Beim Reality Mining geht darum, der an sich "dummen" IT-Infrastruktur etwas über unser Sozialverhalten beizubringen. All diese Web 2.0-Dienste sind ja ganz nett, aber man muss immer alles erst eintippen. Dadurch sind die Daten niemals auf dem neuesten Stand, und wenn man etwas nicht genau weiß, kann man es auch nicht aktualisieren. Reality Mining erkennt Muster in unserem Leben und verwendet diese Informationen, um verschiedene Dinge zu tun – etwa uns zu ermöglichen den Grad an Privatsphäre einzustellen, Informationen mit anderen Personen zu teilen, ihnen Bescheid zu geben, dass wir uns in ihrer Nähe befinden und vieles mehr. Die Technik soll uns dabei helfen, unser Leben zu leben.

TR: Welche Technologien ermöglichen das Reality Mining schon heute?

Pentland: Aktuelle Handys sind ständig eingeschaltet und sie besitzen bereits eine Hardware, die sich als Sensor für unsere Umwelt nutzen lässt. Ist Bluetooth aktiv, kann das Telefon beispielsweise andere Geräte erkennen und von diesen gesehen werden. Man kann aufzeichnen, mit welchen Bluetooth-Geräten man am Tag so in Verbindung kommt. Daraus kann man beispielsweise ermitteln, mit welcher Frequenz man das Handy welcher Person antrifft und welche Beziehung man zu dieser Person hat.

Das iPhone hat außerdem einen Beschleunigungsmesser eingebaut, der uns sagen könnte, ob man sitzt oder sich bewegt. Man muss da nichts mehr explizit eingeben, es wird einfach gemessen. Und alle Handys haben eingebaute Mikrofone, die man nutzen könnte, um unsere Stimmlage zu analysieren, wie lange eine Person spricht, wie oft man andere Menschen unterbricht. Diese Muster können aussagen, welche Rolle Menschen in Gruppen spielen – man kann so herausbekommen, wer der Chef ist und wer diejenigen, die ihm folgen. Ein Teil dieser Informationen werden bereits bekannt sein, doch wir hatten vor dem Handy bislang keine Methode, sie so grundlegend und breit zu messen.

TR: Was könnten die Vorteile dieser ganzen Erfassung sein?

Pentland: Man kann die Dinge auf eine Art sehen, wie das nie zuvor möglich war – es ist ein Blick wie vom Himmel aus. Ein Beispiel, das mir neulich sehr deutlich auffiel, ist, wie stark der Kartendienst Google Earth die Dinge verändert hat. Man stelle sich vor, man hätte eine Karte, auf der man die Bewegungen aller Leute sehen könnte. Wenn man das bei der Grippeepidemie SARS in Hong Kong gehabt hätte – und man darüber dann beispielsweise ein Apartmenthaus sehen kann, in dem niemand zur Arbeit geht. Man könnte schwere Gesundheitsrisiken in 12 Stunden statt in zwei Wochen identifizieren.

Ein anderes Beispiel ist die soziale Gesundheit von Gemeinschaften. Das nennt man auch soziale Integration. Wie gut die Leute miteinander können, bestimmt, ob eine Gemeinschaft funktioniert oder nicht. Mit Reality Mining kann man sehen, ob es eine soziale Integration gibt oder sie eben nicht stattfindet. Sobald jeder solche Dinge sehen kann, können transparente politische Diskussionen in Gang kommen. Warum baut der Bürgermeister nicht mehr Bürgersteige und Zebrastreifen in diesem Gebiet? Könnten mehr Gemeinschaftsveranstaltungen eine Gegend lebenswerter machen?

TR: Das dürfte den Leuten aber doch ziemlich schnell unheimlich werden. Wie soll man da noch ein Gefühl von Privatsphäre bekommen, wenn wir in einer Welt leben, in der das Handy die ganze Zeit unser Leben aufzeichnet?

Pentland: Das ist ein nichttriviales Problem. Wollen wir wirklich, dass die Regierung so viel über uns weiß? Die Technologie könnte eine Epidemie stoppen, aber es gibt auch große Nachteile. Man könnte eine wesentlich transparentere Welt schaffen, in der diese Daten für alle verfügbar sind. Aber wir müssen unbedingt über das Wie sprechen und eine Art "New Deal" für die Privatsphäre schaffen – damit Daten verwendet, aber nicht missbraucht werden können.

Ein typischer Ansatz wäre, dass die Menschen sich für einen solchen Dienst im Opt-In-Verfahren entscheiden müssen, er also nicht verpflichtend ist. Eine andere Methode: Persönliche Daten werden prinzipiell aus allen Informationen herausgenommen, die andere sehen können. Grundsätzlich geht es hier um eine offene Debatte, welche Auswirkungen diese neuen Möglichkeiten haben. Diejenigen, die die Politik bestimmen, wissen nicht immer, was machbar ist und treffen gleichzeitig Entscheidungen, die nicht immer in unserem besten Interesse sind.

Auch wenn das jetzt ein blödes Beispiel ist: Wenn ich irgendwo in der Innenstadt bin und nicht weiß, wo die nächste Toilette ist, würde ich einen solchen Dienst nutzen. Oder es regnet und ich will so schnell wie möglich ein Taxi. In solchen Situationen gäbe ich doch ein kleines bisschen meiner Privatsphäre auf, um von Hilfestellungen zu profitieren.

Klar ist: Die Funktionen kommen und wir brauchen eine neue Übereinkunft darüber, wie sie eingesetzt werden. Es hilft nichts, einfach den Kopf in den Sand zu stecken.

TR: Derzeit ist Reality Mining vor allem in Forschungsprojekten zu finden. Wo überall werden wir diese Technologie in fünf Jahren antreffen?

Pentland: Ein Bereich ist die Überwachung der persönlichen Gesundheit. Die Leute werden eine Rückmeldung bekommen, wie gut es ihnen geht. Das ist im Seniorenbereich sehr wichtig. Ich sehe auch ganz neue Ansätze bei E-Mail-Listen und Spam. Wie wäre es, wenn ich nie wieder eine Botschaft von Leuten bekäme, die ich nie getroffen habe? Man könnte ganze Systeme auf Erfahrungen zurückgreifen lassen, die man im "echten Leben" macht. Das muss ja nicht vollständig automatisch laufen, man kann es im Einzelnen ja immer noch anpassen.

Da gibt es auch noch diesen anderen Aspekt des Kennenlernens der eigenen Person. Wir alle sprechen mit anderen Leuten in der Öffentlichkeit, aber es ist schwer für uns, uns so wahrzunehmen, wie das andere tun. Reality Mining wird uns helfen, uns selbst besser zu erkennen und uns mit anderen in unserer Gruppe zu vergleichen – anonymisiert. Ich denke auch, dass es Organisationen und Firmen geben wird, die diese Daten nutzen, um die Zusammenarbeit und die Arbeitseffizienz der Mitarbeiter zu verbessern. (bsc)