Die offene Technosphäre

Wer nicht nur staunend oder frustriert der gegenwärtigen technischen Entwicklung hinterhecheln will, sondern sie human gestalten will, braucht eine politische Theorie der Technik. Ein Essay von Niels Boeing

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Lesezeit: 20 Min.
Von
  • Niels Boeing
Inhaltsverzeichnis

Neue Technologien beherrschen mehr denn je den Diskurs über die Zukunft: Einerseits werden sie als unerlässliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Standortpolitik im globalen Wettbewerb propagiert, andererseits als Grundlage einer möglichen Dystopie von umfassender Kontrolle und Manipulation kritisiert. Gleichzeitig wird Technik meist als etwas Gegebenes, Sekundäres hingenommen, werden ihre Grundlagen und Entwicklungsspielräume selten ausreichend reflektiert. In loser Folge bringt TR Online deshalb eine Reihe von Essays zur Technik.

Im folgenden Text skizziert TR-Autor Niels Boeing drei Stufen der Technik, die zuletzt zur Herausbildung eines globalen technischen Metasystems, der "Technosphäre", geführt haben. Für die sind im 21. Jahrhundert zwei gegensätzliche Entwicklungslinien denkbar: die "geschlossene" und die "offene" Technosphäre. Welche sich durchsetzt, wird maßgeblich von künftigen politischen Auseinandersetzungen abhängen.

Wenn Technik und Zukunft in einem Atemzug genannt werden, purzeln meist wilde Prognosen durcheinander. Da ist von allgegenwärtigen Sensornetzen die Rede, von Robotern, die uns das Geschäft des Krieges ebenso abnehmen werden wie die Mühen des Alltags, oder von der Verschmelzung von Mensch und Maschine. Im Dunkeln bleibt, was Technik am Beginn des 21. Jahrhunderts eigentlich ausmacht. Das sollte uns nicht erstaunen, denn die Szenarien werden von Trendforschern und Unternehmensstrategen entwickelt, die kaum ein anderes Interesse haben können, als die künftige technische Entwicklung aufregend und damit vermarktbar erscheinen zu lassen.

Die Öffentlichkeit, in den vergangenen Jahrzehnten einem atemberaubenden technischen Wandel ausgesetzt, nimmt solche Aussagen inzwischen achselzuckend zur Kenntnis. Aber nicht, weil sie es besser wüsste. Tatsächlich ist das Verständnis von Technik nicht annähernd so weit entwickelt wie etwa das von Wirtschaft oder Demokratie. Technik ist einfach da: eine stetig wachsende Sammlung von Werkzeugen, die mal besser, mal schlechter designt sind, die sinnvoll genutzt oder missbraucht werden können. Beeinflussen lässt sie sich nicht. Das Gebot der Stunde lautet: sich anpassen und das Beste daraus machen.

Diese Vulgärversion eines tradierten ingenieurwissenschaftlichen Technikverständnisses verhindert eine umfassende, tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Gegenstand und bleibt politisch folgenlos. Wenn wir also nicht immer nur staunend oder frustriert der Entwicklung hinterhecheln wollen, müssen wir zunächst einmal genauer beschreiben, was Technik ist.

Von der Technik zur Technosphäre

Die Techniktheoretiker des 20. Jahrhunderts sind sich darin einig, dass Technik mehr ist als nur die Artefakte, die sie hervorbringt. Der Kontext ihres Gebrauches muss ebenso berücksichtigt werden wie ihre Einbettung in soziale Systeme – Günter Ropohl spricht in seiner Systemtheorie der Technik von "soziotechnischen Handlungssystemen". Andrew Feenberg schreibt in Questioning Technology: "Technik ist das Medium des täglichen Lebens in modernen Gesellschaften."

Damit ist der Horizont schon einmal geweitet. Eine erste Definition könnte dann lauten: Technik ist die Umgestaltung der Welt durch den Menschen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Dieser Prozess beginnt bereits in der Frühgeschichte des Menschen. Waren die Bedürfnisse anfangs noch ausschließlich biologischen Ursprungs, hat jene Umgestaltung ihrerseits bald neue hervorgebracht. Um ein zeitgemäßes Beispiel zu nennen: Die Erfindung von kleinen magnetischen Tonträgern, den Musikkassetten, in den sechziger Jahren, hat wohl erst den Gedanken aufkommen lassen, in jeder Lebenslage mit Hilfe eines kleinen tragbaren Abspielgeräts personalisierte Musik hören zu können. Die Lösung war der von Sony 1979 eingeführte Walkman. Technik ist also – das ist der zweite Schritt – immer auch rekursiv: Sie gibt Antworten auf Fragen, die sie selbst erst aufgeworfen hat.

Das ist allerdings immer noch recht abstrakt. José Ortega y Gasset hat sich in seinen Betrachtungen über die Technik an einer ersten Systematisierung des Phänomens Technik versucht. Bezogen auf den Vorgang der Konstruktion unterschied er die "Technik des Zufalls", die er in der frühen Antike verortet, die "Technik des Handwerkers" seit der Spätantike und die "Technik des Technikers", die mit Beginn der Neuzeit entsteht. Das klingt zwar zunächst einleuchtend – obwohl der Pyramidenbau, den er als Beispiel für eine Technik des Zufalls heranzieht, wohl bereits eine echte Ingenieurleistung war –, geht mir aber noch nicht weit genug.

Motiviert von Don Ihdes "Amplification-Reduction"-Konzept in Technics and Praxis sowie von Günter Ropohls Formen technischen Wissens möchte ich eine andere Unterscheidung vorschlagen. Danach gibt es drei Arten von Technik, die zwar nacheinander entstanden sind, heute aber nebeneinander existieren:

  1. Die unmittelbare sensuelle Technik – die Funktionsweise des technischen Systems ist den menschlichen Sinnen sofort zugänglich und kann durch Ausprobieren und Beobachten nachvollzogen werden. Diese älteste Form der Technik nutzt die Mechanik, das Feuer und einfache chemische Vorgänge.
  2. Die mittelbare amplifizierte Technik – hier muss die Funktionsweise des technischen Systems über andere Artefakte, deren Wirkprinzip nur noch über ein gewisses technisches Wissen zugänglich ist, erschlossen werden. Dabei handelt es sich etwa um Linsen in der technischen Optik, die in der Renaissance aufkommt. Die Entdeckung der Elektrizität und die Fortschritte der Chemie im späten 18. Jahrhundert verstärken diese Entwicklung dann.
  3. Die komplexe kognitionsmaschinenabhängige Technik – hier findet ein weiterer Abstraktionsschritt statt, denn die der Funktionsweise zugrunde liegenden Effekte müssen mit Hilfe von Maschinen, beispielsweise Computern, in sensuell nachvollziehbare Informationen überhaupt erst übersetzt werden. Technische Systeme werden zu Black Boxes, deren Innenleben nur Experten zugänglich ist, und bilden Metasysteme, deren Wirkungen ineinander greifen. Diese Art der Technik hat sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert.