Medikament umgeht Genmutationen

Ein Wirkstoff, der Zellen hilft, auch aus fehlerhafter DNA die korrekten Proteine zu erstellen, könnte große Auswirkungen auf die Behandlung von Erbkrankheiten haben.

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Von
  • Emily Singer

Ein neuer Wirkstoff, der die Herstellung korrekter Proteine aus mutierter DNA erlaubt, könnte in den nächsten Jahren Menschen mit einer ganzen Reihe von Erbkrankheiten helfen. Das Medikament zeigt erste positive Wirkungen bei der Behandlung von Mukoviszidose und Muskeldystrophie und soll nun in einer größeren internationalen klinischen Studie getestet werden.

Verschiedene Erbkrankheiten wie die Muskeldystrophie haben ihren Ursprung in der Mutation von Genen, die lebenswichtige Proteine bilden. In einigen Fällen besteht die Mutation aus einem genetischen "Stoppschild", das an der falschen Stelle steht – einer Sequenz also, die der Zellmaschinerie übermittelt, dass die Produktion des Proteins unterbrochen werden soll, obwohl sie eigentlich noch gar nicht abgeschlossen ist. Das Resultat kann dann eine verkürzte, nur schlecht funktionierte Version des Proteins sein oder aber überhaupt keins. Das neue Medikament erlaubt es der Zelle nun, solche genetischen Stoppsignale "zu überfahren" und deshalb korrekte Proteinmoleküle zu produzieren.

Schwere Erbkrankheiten sind zwar selten, doch eine vorzeitig unterbrochene Proteinherstellung kommt bei ihnen erstaunlich häufig vor, auch bei Muskelatrophie, erblicher Netzhautdegeneration und der Bluterkrankheit. Die meisten Medikamente verändern die Aktivitäten von Proteinen, nach denen sie bereits hergestellt wurden. Der neue Wirkstoff, der von dem Start-up PTC Therapeutics aus New Jersey entwickelt wurde, greift hingegen in die zelluläre Maschinerie ein, die die Proteine überhaupt erst produziert. In der Konsequenz könnte die Methode bei Krankheiten helfen, bei denen völlig unterschiedliche Proteine Probleme verursachen. "Ich halte das für einen großen Durchbruch", meint Robert Singer, Biologe an der Albert Einstein Medical School in New York, der die Forschungsarbeit kennt. "Da der Wirkstoff das darunter liegende Problem der Genexpression angeht, lässt er sich bei ein paar Tausend Krankheiten nutzen", glaubt Allan Jacobson, Leiter des Instituts für Molekulargenetik und Mikrobiologie an der University of Massachussets Medical School, einer der Gründer von PTC.

Die Firma konzentrierte sich in frühen klinischen Untersuchungen auf die Muskeldystrophie Typ Duchenne (DMD), eine degenerative Muskelerkrankung, von der jedes Jahr weltweit rund 20.000 Kinder (einer von 3500 Jungen) betroffen sind, sowie die Mukoviszidose, einer chronischen Krankheit der Lungen und anderer Körperbereiche, von der rund 70.000 Menschen weltweit betroffen sind. Rund 15 Prozent der DMD-Fälle haben mit dem erwähnten genetischen Stoppsignal zu tun. Bei der Mukoviszidose sind es immerhin noch zehn Prozent, in Israel sogar 50. Kein Wirkstoff wurde bislang für die DMD-Behandlung freigegeben und Medikamente gegen Mukoviszidose attackieren vor allem die Symptome, nicht aber den Auslöser der Krankheit.

Ergebnisse erster klinischer Studien beider Krankheiten, die im letzten Jahr abgeschlossen wurden, seien bereits "unheimlich ermutigend" gewesen, meint Brenda Wong, Neurologin am Cincinnati Children's Hospital Medical Center, die einen Teil der Untersuchungen leitete.

Muskelbiopsien zeigten dabei, dass rund 50 Prozent der DMD-Patienten, die den Wirkstoff nahmen, wieder normale Kopien des Dystrophin-Proteins produzierten, einem Strukturstoff, der dabei hilft, dass Muskeln ihre Dehnkraft behalten. Ohne das Protein sind Muskeln fragil und brechen mit der Zeit.

Patienten mit Mukoviszidose fehlt ein Protein namens CFTR, das für den Transport von Chlorionen aus Zellen heraus und in sie hinein von Bedeutung ist. Ohne das Protein verstopft dicker Schleim die Lungen, was letztlich zu Atemstillstand führen kann. Forscher fanden heraus, dass Patienten, denen man den Wirkstoff gab, eine Proteinproduktion im Nasen-Epithel aufwiesen, das dem Lungen-Epithel ähnelt. Patienten trugen außerdem Westen mit Sensoren, die belegten, dass sich ihr Husten um immerhin 30 Prozent reduzierte – Mukoviszidose-Patienten husten sonst zwischen 600 und 1500 Mal am Tag. Allerdings war keine der beiden Studien blind, das heißt, dass sowohl Forscher als auch Patienten wussten, wer welches Medikament bekam.

Eine größere, Placebo-kontrollierte Untersuchung des Wirkstoffes gegen Muskeldystrophie läuft nun – mit 175 Patienten an 38 Orten in den USA, Europa, Australien und Israel. Eine ähnliche Untersuchung für Mukoviszidose wird im nächsten Jahr starten. Diese Tests werden ein Jahr oder länger dauern und den Forschern so abschätzen helfen, ob das Medikament mit der Zeit die Protein-Produktion erhöht, bis es zu einem Stopp der Erkrankung kommt. Obwohl in den früheren Untersuchungen Veränderungen einiger Symptome festgestellt wurden, ging es dabei noch nicht darum, ob sich der Zustand der Patienten verbessert. Wichtiger war der Nachweis, dass die Zielproteine erstellt wurden.

Lee Sweeney, Biologe an der University of Pennsylvania, der mit PTC zusammenarbeitet, schätzt, dass im Vergleich zum Tierversuch die Proteinproduktion beim Menschen um 20 bis 30 Prozent zunehmen muss. "Wir werden über die nächste sechs Monate einen Einblick darin erhalten, wie stark wir den Krankheitsverlauf stoppen können."

Die Studien werden außerdem überprüfen, wie sicher der Wirkstoff ist. Bislang gab es hier keine Probleme auch beim Menschen, doch die Langzeitauswirkungen sind noch unklar. "Ich fürchte mich ein wenig vor den Nebenwirkungen", meint Melissa Spencer, Forscherin am DMD-Forschungszentrum der University of California in Los Angeles, die die Untersuchung kennt. Weil das Medikament es der Proteinproduktionsmaschinerie in den Zellen erlaubt, zu frühe Stoppsignale zu übergehen, gibt es die Befürchtung, dass auch die korrekten Endanweisungen nicht beachtet werden könnten, was die Proteine unnötig verlängern würde. Laut PTC gibt es hierfür aber bislang keine Hinweise.

Das Medikament zeigt auch erste gute Ergebnisse beim Tiermodell anderer Krankheiten, darunter dem Rett-Syndrom, einigen Tumoren mit Mutationen bei Tumorunterdrückergenen und der Bluterkrankheit, wie PTC-Chef Stuart Peltz sagt. Die Firma plant nun klinische Tests an Menschen mit Bluterkrankheit Typ A und B.

Weil der Wirkstoff aus einem kleinen Molekül besteht, das oral eingenommen werden kann, besitzt es einige Vorteile gegenüber anderen neuartigen biologischen Therapien, die zur Behandlung dieser Krankheiten entwickelt wurden, darunter Gentherapieformen und RNA-Interferenz. Solche Wirkstoffe lassen sich oft nur schwer im Körper ausliefern und können eine Immunreaktion auslösen. "Wir nutzen im Grunde eine Gentherapie, die sich der Zellenmaschinerie bedient, anstatt neue DNA einzuführen", sagt Peltz. Die Chance, dass es dabei eine Immunreaktion gebe, sei wesentlich geringer als die DNA-Auslieferung mit Hilfe eines Virus. (bsc)