Altes Hirn wird wieder jung

US-Forscher entwickeln neue Methoden, mit deren Hilfe sich die neuronale Plastizität des Gehirns verbessern lassen soll.

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Von
  • Emily Singer

Neue Ansätze zur Manipulation der neuronalen Plastizität, also der Fähigkeit des Gehirns, sich selbst neu "zu verdrahten", könnten den Denkapparat eines Erwachsener in den nächsten Jahren so leichtgängig wie den eines jungen Menschen machen – zum Teil zumindest. Wirkstoffe, die diese Mechanismen angehen, könnten zudem auch bei neurologischen Krankheiten von Alzheimer über Schlaganfälle, Schizophrenie bis hin zum Autismus helfen.

Noch sind die Wissenschaftler allerdings noch nicht so weit – sie müssen eine Möglichkeit finden, die Neuverdrahtungsfähigkeiten zu nutzen, ohne vitale Nervenbereiche zu schädigen. "Sobald wir die Mechanismen hinter der Plastizität verstanden haben, können wir aber Therapien entwickeln, die diese spezifischer angehen", meint Joshua Sanes, Neurowissenschaftler an der Harvard Medical School.

Das Gehirn ist während der Entwicklung äußerst formbar. Zu diesem Zeitpunkt sind Erfahrungen von Außen, also Bilder und Geräusche, notwendig, damit die verschiedenen Gehirnsysteme sich normal entwickeln. Babys und Kleinkinder zwischen den Jahren eins und drei benötigen beispielsweise regelmäßige visuelle Stimuli, damit sich in ihrem Sehapparat die korrekten Nervenbahnen bilden. Wird ein Auge während dieser Phase behindert, etwa durch die so genannte Amblyopie, kann die Sehkraft permanenten Schaden nehmen.

Bei der Untersuchung des Äquivalents dieser Krankheit bei Mäusen entdeckten Takao Hensch und seine Kollegen am Kinderkrankenhaus von Boston nun zwei Mechanismen, die diese so genannte kritische Phase zu kontrollieren scheinen. Während einige Medikamente bereits bekannt sind, die hier offenbar beschleunigend wirken (etwa ein Wirkstoff, der das Hemmsignalsystem beeinflusst), konnte Hensch nun erstmals die genauere Wirkweise und neue Ansatzpunkte für mögliche Behandlungen austüfteln.

Wie bei Kindern ergibt sich bei Mäusen, die in der kritischen Phase von Amblyopie betroffen sind, ein dauerhafter Schaden, der sich nicht von selbst korrigieren lässt. Forscher nutzten diese Tatsache aus, um Behandlungsformen zu untersuchen, die das Timing der Entwicklung der neuronalen Plastizität verändern. Wirkstoffe, die die kritische Phase ausdehnen, erlauben es erwachsenen Tieren mit nur einem funktionierenden Auge, ihre normale Sehstärke zu erlangen. Henschs Gruppe konnte zuvor bereits zeigen, dass ein spezifischer Zellentyp, die große Korbzelle, die neuronale Plastizität einleitet. Diese Zellen sind von einem molekularen Netz umgeben. "Die kritische Phase endet, wenn sich dieses Netz sehr eng um die Zellen zieht", sagt Hensch. Werden diese Netze auf molekularer Ebene mit einem Enzym aus der Familie der Hydrolasen gekappt, lässt sich die Plastizität auch bei Erwachsenen wiederherstellen.

Hensch und sein Team fanden heraus, dass die Korbzellen-Entwicklung von einem Protein namens Otx2 kontrolliert wird. Kommt dieses erhöht vor, wird die Phase der Plastizität eingeleitet, wird es entfernt, wird sie gestoppt. Während diese Erkenntnis speziell für den Sehapparat gilt, existieren auch in anderen sensorischen Systemen solche Zellen, die womöglich ähnlich funktionieren.

Ein zweiter Mechanismus zur Manipulation der neuronalen Plastizität bei Erwachsenen ist die Blockade hemmender Moleküle, die das Nervensystem produziert, um das Nervenwachstum zu stoppen. "Das Nervensystem ist dem Wachstum neuer Axone gegenüber feindlich eingestellt, weshalb es so schwer ist, nach einem Riss des Rückenmarks wieder zu gesunden", sagt Hensch.

Myelin-Zellen, die eine Isolationsschicht um die Axone bildet, liefern einen Teil dieser Hemmstoffe. Beim Experimentieren mit bestimmten Wirkstoffen, die das Myelin lockern, fanden Hensch und seine Kollegen heraus, dass der normalerweise stabile Sehapparat von erwachsenen Nagern wieder plastisch wurde, was schwachsichtigen Tieren half, sich zu erholen. Der verwendete Wirkstoff ist allerdings giftig und deshalb so nicht für eine Therapie zu gebrauchen.

Die Nützlichkeit, die Plastizität der Jugend zurückzugewinnen, scheint auf den ersten Blick groß – vorstellbar wäre beispielsweise das schnelle Erlernen neuer Sprachen. Dementsprechend erscheint es auf den ersten Blick merkwürdig, dass das Gehirn mehrere Mechanismen erfunden hat, eine starke Neuverdrahtung der Nervenzellen bei Erwachsenen zu vermeiden. Doch die Möglichkeit, seinen Denkapparat einer Überholung zu unterziehen, könnte auch Nachteile haben – beispielsweise, indem Erinnerungen gelöscht werden. "Man würde vielleicht die Identität, die man aufgebaut hat, verlieren", meint Hensch, "wir wollen aber, dass man behält, was man bereits weiß".

Um die Plastizität der Jugend wiederzubeleben, müssten die Forscher deshalb eine Behandlung erstellen, die sehr präzise wirkt. "Vielleicht können wir die kritische Phase sehr vorsichtig einleiten", hofft Alison Doupe, Neurowissenschaftlerin an der University of California, San Francisco, die Henschs Studie kennt. "Man könnte sie nur dann einschalten, wenn man Russisch lernen will, um ein Beispiel zu geben."

Neben der Möglichkeit, die mentale Agilität älterer Menschen zu verbessern, könnten Henschs Forschungsergebnisse auch dazu beitragen, Entwicklungskrankheiten wie Autismus zu erklären.

Wissenschaftler hatten kürzlich entdeckt, dass bestimmte Mäusestämme, die genetisch so verändert wurden, dass sie eine seltene erbliche Form von Autismus zeigten, ein Ungleichgewicht bei stimulierenden und hemmenden Nervensignalen besaßen. Henschs frühere Arbeiten legen nahe, dass dieses Ungleichgewicht die kritische Phase durcheinander bringen kann. "Vielleicht werden andere Hirnregionen bei Autismus zu früh oder zu spät zu plastisch", sagt Hensch. Das könnte auch erklären, warum Unterbrechungen derart unterschiedlicher Moleküle ähnliche Symptome erzeugen können, sagt er. "Vielleicht haben wir es hier mit einem gemeinsamen Problem zu tun."

Der Forscher untersucht solche Ungleichgewichtszustände nun näher. Dabei wurde bereits herausgefunden, dass Mäuse der Stämme, die genetisch so verändert waren, Autismussymptome zu entwickeln, zu viele Nervenverbindungen in bestimmten Bereichen des Gehirns aufwiesen, obwohl jede Verbindung individuell schwach zu sein schien. "Das könnte zu sehr viel Variabilität führen. Vielleicht kann man diese Eigenschaft nutzen, um das Gehirn zu reparieren." (bsc)